laut.de-Kritik
Es herrscht Aufbruchstimmung im Genre Gay-Church-Folk.
Review von Christoph Dorner"Forget what you know / leave your home", singt Joel Gibb, der selbst vor Jahren schon von Toronto nach Berlin gezogen ist, im programmatischen Opener "Ratify The New". Auf dem fünften Album seiner Hidden Cameras herrscht zunächst tatsächlich so etwas wie Aufbruchstimmung. Als extrovertiertes Gay-Church-Folk-Kollektiv gestartet, hatte Gibb bereits auf dem Vorgänger "Awoo" eine Kurskorrektur hin zu einem eingängigeren, aber auch verschulteren Ansatz eingeleitet.
In Berlin hat Gibb auch angefangen, sich für europäische Avantgarde zu interessieren. Er studierte deutsche Klassik, die mit einem grollenden Grundton aus Wagners Oper "Das Rheingold" in den Epilog des Openers Einzug hält, ehe Gibbs kehliger Gesang einsetzt und orientalisch anmutende Streicherarrangments in eine flirrende Skizze barocken Pops einmünden.
Bei aller Anmut, die "Ratify The New" ausstrahlt: dieses Niveau hält Gibb nicht durch, auch wenn es mit "Walk On" noch so eine orchestrale Nummer mit pompösen Bläsern auf das Album geschafft hat. Er will es auch nicht, schließlich ist er kein Drama-Boy wie Antony Hegarty. Gibb orientiert sich auf "Origin:Orphan" da schon eher an dem geigenden Folk-Akademiker Andrew Bird, dem verschwurbelter und dennoch süßlicher Lo-Fi-Bastel-Pop wie "In The NA" aber nur einmal herausrutschen würde.
Abwechslungsreich geht es weiter: "He Falls To Me" ist dynamischer, falsettierender Indie-Pop im Stil von The Shins, das anschließende "Ballad Of A Man" glasklare Pop-Folklore mit Geigen, Klavier und großer Geste. Wer sich nun etwas verwundert fragt, ob dem bekennenden Homosexuellen Gibb ausgerechnet im wilden Berlin die früheren Anzüglichkeiten ausgetrieben wurden, soll sich nur "Underage" anhören.
Der Song könnte als ABBA-esker Synthie-Pop mit harmonischen Männerchorälen auch glatt bei "Wetten, dass..?" aufgeführt werden, wäre da nicht dieser explizite Text: "Let's do it like we're underage / I'll pretend you're seven, you'll pretend I'm eight". Ein bisschen Spaß an sexueller Provokation hat Gibb bei allem neuerdings ernsthaften musikalischen Anspruchsdenken immer noch.
Wie hat man nicht einst in der Arena des FC Bayern geschaut, als die Hidden Cameras zu Mehmet Scholls Abschiedsspiel ihr queeres Lederhosen-Theater aufführten. Würde man den gleichen Leuten heute das schöne "Do I Belong?" mit seinem trendigen 8-Bit-Disco-Vibe vorspielen, sie würden es nicht mögen. Aber die alten Soft Cell, die würden sie hören. So ist das nun einmal, wird sich Fußballrentner Scholl gelassen denken und zu "Origin:Orphan" im Wohnzimmer tanzen.
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