laut.de-Kritik

Meisterhafter Soundtrack zum Kopfkino.

Review von

Am Anfang steht der Tod. Der gleichmäßige Piep-Ton eines Kardiographen, der Adrenalinrausch kurz vor dem Ableben. "Dun". Am 21. Oktober 1999 um 11:59 nimmt das unfertige Leben des Redford Stephens sein vorzeitiges, tragisches Ende mit einem Schuss.

Es ist nicht das einfachste Thema, das sich The Roots für ihr elftes Studioalbum in 18 Jahren ausgesucht haben. Immerhin behandelt "Undun" nicht weniger als die philosophisch-soziologischen Fragen nach dem Ursprung des Bösen und dem Spannungsverhältnis zwischen eigenem Willen und alltäglicher Realität. Dass sie für die Beantwortung ein Konzeptalbum gewählt haben, ist ein längst überfälliger Schritt. Sie können auch das. Schließlich sind die Platten der legendären Kombo in der Regel ohnehin Gesamtkunstwerke.

Wer angesichts des Themas eine verkopfte, musikalisch untermalte Vorlesung befürchtet, irrt. Rapper Black Thought und Kollegen sowie verschiedene Gäste nähern sich dem Thema biographisch anhand der fiktiven Figur Redford Stephens, einem "Street-Kid, das in die Kriminalität abrutscht, obwohl er ganz und gar nicht als Verbrecher auf die Welt kam", so Drummer Questlove im Vorlauf der Veröffentlichung: "Dieser Typ ist umsichtig, weder ein Opfer, noch ein Held, halt irgendein Junge, der sein Leben immer gerade so interpretiert, wie es der jeweilige Moment von ihm verlangt." Und der leider eine falsche Entscheidung trifft, die ihn später das Leben kosten wird.

Dramaturgisch an Filme wie "Memento" oder "Irréversible" angelehnt, erzählen die Roots ihre Geschichte aus Sicht der Hauptperson rückwärts. Seinen Anfang nimmt das Drama im zehnten Titel. "Tip The Scale" erzählt von einem jungen Menschen, der sich der Ausweglosigkeit seines Seins bewusst wird. Große Träume stoßen auf die kleine, elende Wirklichkeit seines Viertels, in dem Drogen und Gewalt an der Tagesordnung sind. Die Zukunft ist düster, billiges Gras und billiger Alkohol helfen nicht weiter. Suizidgedanken rücken näher ("I Remember"), Hilfe und Halt sind nicht in Sicht ("Lighthouse").

Weil sich das gesetzestreue Leben mit ordentlichen, aber schlecht bezahlten Jobs nicht mit den Träumen vereinbaren lässt, rutscht Redford Stephens auf die schiefe Bahn. Ständige Rückschläge, gesellschaftliche Hürden und fehlende Perspektive treiben ihn in die Drogenkriminalität ("Stomp ft. Greg Porn"). Dort läuft es zunächst gut, statt Maloche steht Spaß und Zeit an der Tagesordnung, die Drogen werden besser, die Klamotten teurer, die Mädchen hübscher – doch die Feinde zahlreicher und Zufriedenheit stellt sich nach wie vor nicht ein. "Living on borrowed time / I'm paying the extra charge", rappt Greg Porn in "Kool On". Die Höhe des Zuschlags ist bekannt.

Questlove lehnte sich schon vor der Veröffentlichung weit aus dem Fenster. "Ich wage zu sagen, dass 'Undun' so gut ist, wie die Roots sein können", frohlockte er im Interview mit dem Magazin Spin, "unser Songwriting kann nicht besser werden, unsere Produktion kann nicht besser werden." Er behält Recht. Tatsächlich agieren Black Thought und seine zahlreichen Gäste auf höchsten Niveau. "Undun" strotzt vor klugen Metaphern, rutscht stellenweise ins Poetische ab. Ein harter Brocken für Nicht-Muttersprachler, der sich allerdings zu entschlüsseln lohnt, um die Geschichte der Hauptfigur in allen Aspekten nachzuvollziehen.

Zum Beispiel Redford Stephens innere Zerrissenheit, die er im Laufe seines Lebens an den Tag legt. "Even if I'm going to hell I'm gonna make an entrance", rappt Black Thought etwa in "The OtherSide". Im Angesicht des Todes ist das Selbstbewusstsein verflogen: "If there's a heaven I can't find a stairway" ("Make My"). Dass Zeilen wie "Feared in all streets / so if you ever see me out in y'all streets / Find another one to occupy" aus "One Time" aktueller kaum sein können, liegt an der kurzen Produktionszeit der Platte. Erst im Oktober fasste die Truppe den Entschluss zu "Undun".

Schon beim Vorgänger "How I Got Over" kristallisierte sich die neue Vorlieben der Kombo aus Philadelphia für Singer/Songwriter heraus. Für die aktuelle Platte steht Sufjan Stevens Pate, dessen "Redford (For Yia-Yia & Pappou)", ein kleines Interlude auf "Michigan", den Ausschlag für die Geschichte gegeben hat.

Die Roots sezieren das ursprünglich nur zwei Minuten lange Stück, dehnen es auf vier Akte und rund fünf Minuten aus. Stevens spielt zunächst den Originaltitel, bevor ihn ein Streicherquartett interpretiert ("Possibility (2nd Movement)"). In "Will To Power (3rd Movement)", dem dritten Akt, befassen sich Questlove und der Avantgarde-Pianist D.D. Jackson mit dem Titel, schweifen in den Free-Jazz ab, um in "Finality (4th Movement)" wieder von Streichern aufgefangen zu werden.

Die Instrumentalstücke sind die einzigen Momente, in denen die musikalische Untermalung deutlich hervortritt. Stephens Rückblick auf sein Leben gerät ansonsten ungemein entspannt. Insbesondere Questlove hält sich über fast die komplette Spielzeit vornehm zurück, um den Fokus nicht zu verrücken. Damit gelingt The Roots das, woran Konzeptalben häufig scheitern. Geschichte und Untermalung sind auf "Undun" eine Einheit, ergänzen sich, wenn in "Stomp" kantige Gitarren und eine drohende, monotone Basslinie den entscheidenden Wendepunkt zum vermeintlich Besseren unterlegen.

Wenn sich in "I Remember" der Gedanke des Suizids verfestigt und ein Cello in einer Textpause Stephens Depression verdeutlicht oder wenn in "Make My" luftige Keys und eine entspannte Gitarre seine Wehrlosigkeit kurz vor dem Tod verdeutlicht. "One Time" verhelfen hallende Becken und ein einfaches Piano zu Größe, bei "Kool On" setzen The Roots auf D.J. Rogers, dessen Klassiker "Where There's A Will (There's A Way)", und damit zum einzigen Mal auf ein Sample.

Musikalisch ist "Undun" der Soundtrack zu einem Kopfkino, das gesellschaftlich aufrütteln und gleichzeitig unterhalten soll. Ungewöhnlich orchestral, jedoch ohne pompösem Bombast, kommt die neue Scheibe der Legendary Roots Crew daher. Unaufdringlich, überlegt und doch vereinnahmend. Und The Roots haben Blut geleckt. "Vielleicht gehen wir beim nächsten Album weiter und arbeiten mit einem vollwertigen Orchester", blickt Questlove bei Spin voraus. Es wäre wünschenswert, wenn am Ende ein intelligentes Meisterwerk wie "Undun" steht.

Trackliste

  1. 1. Dun
  2. 2. Sleep
  3. 3. Make My feat. Big K.R.I.T. & Dice Raw
  4. 4. One Time feat. Phonte & Dice Raw
  5. 5. Kool On feat. Greg Porn & Truck North
  6. 6. The OtherSide feat. Bilal & Greg Porn
  7. 7. Stomp feat. Greg Porn
  8. 8. Lighthouse feat. Dice Raw
  9. 9. I Remember
  10. 10. Tip The Scale feat. Dice Raw
  11. 11. Redford (For Yia-Yia & Pappou)
  12. 12. Possibility (2nd Movement)
  13. 13. Will To Power (3rd Movement)
  14. 14. Finality (4th Movement)

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