laut.de-Kritik
Lieber angepisst als angepasst: Anti-Kriegs-Lieder mit scharfer Gitarre.
Review von Philipp KauseHumor ist zeitlos und sollte in der Musik nicht fehlen. Wie lustig man den Hund auch findet, der auf The Selecters "My Collie (Not A Dog)" bellt, gut gemacht ist die Nummer über das Collie, ebenso genannt Weed, Ganja oder Mary Jane, allemal. Steht die Hanf-Legalisierung heute in einem deutschen Koalitionsvertrag, empfahl es sich, 1980 den Song mit den Worten zu beginnen: "Dies ist eine amtliche Gesundheitswarnung / Rauchen kann Ihr Gehirn ernsthaft schädigen."
Der Collie ist der siebt-beliebteste Hund Großbritanniens, "My Collie (Not A Dog)" der siebte Track auf "Too Much Pressure" der siebenköpfigen Band The Selecter. Deren wichtigste Merkmale: starke Live-Bühnentiere, Liebe zu Melodien, lyrisch fit, schwarz-weiße Karomuster, Sinn für coole Song-Intros, erfolgreichste Ska-Gruppe nach Madness, Hammond-Orgel-Riffs allererster Güte, female-fronted, ein Ensemble, das historisch einen fetten Fußabdruck hinterlässt und heute vitaler ist denn je, obschon viele Musiker kamen und gingen. Spaß haben sie, Spaß verbreiten sie, wenn sie euphorisch zum Offbeat schwärmen: "I love my collie, it makes me feel so high / It gives me deep meditation / Oh, my sweet collie."
In der Hook des punkig-angepissten "They Make Me Mad" wird die musikalische Innovation am deutlichsten: Eine Psychedelic-Gitarre mit einzeln angespielten Tönen auf dem Lead-Instrument hatte zuvor keine jamaikanische Combo auf Ska benutzt. Das gurgelnde Orgel-Intro mag auf Jackie Mittoos Instrumental zurückgehen; im Rahmen schneller Vocal-Songs etablierten es The Selecter als Stilmittel. Seither schreibt es sich bis zu heutigen Gruppen, z.B. The Hacklers (Nordirland), Buster Shuffle (Großbritannien) und The Aggrolites (Kalifornien) fort.
The Selecter gab es in ihrer ersten Phase zwar nur ein paar Jahre. Immerhin deutlich länger als all die vielen Ska-One Hit Wonders. Haufenweise talentierte Leute jammten herum und sahen nur wenige Tage ihres Bestehens ein Aufnahmestudio von innen: The Akrylyz, The Gangsters, The Piranhas, The Papers, The Thrillers ... Sie alle verkörperten genau den rauen Sound, das Rhythmusgespür, die passenden Slogans, den griffigen Bandnamen, den Enthusiasmus, pfiffige Melodien, kompakten Klang, all das, was The Selecter auszeichnete. Und die bildeten die Vorhut.
Bald nach deren Debüt-Scheibe "Too Much Pressure" war noch 1980 der Ska-Peak erreicht. Etliche Hymnen der Platte trugen dazu bei. "On My Radio" setzte sich auf die Eins der Charts in Frankreich. Das rausgekläffte und punkige "Murder" und der Party-Schunkler "Carry Go Bring Home" für die Pubrock-Fraktion hinterließen akustische Duftmarken.
Messerscharf die Gitarren in "Missing Words". Das Schlagzeug katapultiert uns in einen der wabbeligsten Rhythmen Großbritanniens. Hier brennt der Schrei der Jugend der Punk-Generation, wenn Frontfrau Pauline "it's all over now" in ein in die Ferne weggemischtes Mikro seufzt. Kollege Gaps antwortet ein Echo in Call/Response-Struktur - eine ur-afrokaribische Ausdrucksform!
Die beiden harmonieren vortrefflich, zwei starke Charaktere, die sich gut ergänzen, sich aber am Autor der meisten Selecter-Classics, Leadgitarrist Neol Davies, allzu oft gefährlich rieben. Bei den Engländern knallte es gruppenintern des öfteren. Am backstage Champagner schlürfenden Label-Chef Jerry Dammers, mit The Specials ebenfalls bei Two Tone gestartet, übt die heute 68-Jährige durchaus Kritik. Denn Ska, das sei Subkultur und entsprechend auf Augenhöhe mit den Fans; da müsse man schon vor dem Konzert raus und am Merch eigenhändig die Ware aufstellen, mit den Konzertbesuchern in Kontakt treten und dürfe auf keinen Fall elitär rüberkommen. Die karibische Ästhetik steht in Paulines Lesart nicht l'art pour l'art, sondern für Protest.
Die klappernden Drums und hart ausgestoßenen Stolper-Beats vertonen das Lebensgefühl der 'under-privileged'. Ska ist demnach genau das richtige Mittel, um die englische Klassengesellschaft der Prä-Thatcher-Jahre zu provozieren. Und in Abgrenzung zur Punkkultur, mit der es die Oi!-Schnittmenge gibt, repräsentieren die Ska-Vertreter nicht die 'weiße' Jugend Südenglands, sondern die Kinder jener zugewanderten Eltern, die zum Wirtschaftswachstum des Prä-EU-Großbritanniens maßgeblich beigetragen hatten und dürftige, verkehrstechnisch abgehängte Sozialwohnungen im Tausch erhielten. Da war der Weg auf die Straße nicht allzu weit. "Out On The Streets" kündet davon. Und so ist auch das explosive "Street Feeling" zu verstehen, eine Keyboard-Orgel-basierte Nummer.
Schon der Titeltrack fasst die aufgewühlte Lage in Englands Cities zusammen. Da hatten sich sozioökonomischer Druck, Entfremdung, Sinnentleerung und Cold War-Zermürbung in frechen Nihilismus konvertiert. Da wandelte eine spielerisch sehr versierte Formation das stets kreative Energiepotenzial der chronischen Unzufriedenheit und juvenilen Rebellion um, in einen Knall, und verpackte es in Ästhetiken, die nur mit Hilfe von Übersee-Importen denkbar waren.
The Selecter besetzten mit ihrem Debüt auch die Position als programmatische Band, die für Feminismus und Anti-Sexismus eintrat. Pauline beschreibt das mit der textlich und cover-graphisch wiederholt eingesetzten Farbe Rot als Symbol der weiblichen Präsenz. Wobei Miss Black stets alleine mit lauter männlichen Musikern war, egal wie sich die Gruppe später umbesetzte. Managerin der ersten Stunde war indes mit Juliet eine Frau. Der allgemeine gesellschaftspolitische Inhaltsreichtum trug womöglich mehr als bei anderen Interpreten zum längeren Atem bei.
"Three Minute Hero" vermengt in einem sehr gut strukturierten Text die persönliche, private mit der öffentlichen Ebene. Die persönliche: Keine Lust auf die sinnentleerte Arbeit ("stupid jobs"), keine Freude an Unternehmungen, jeder Tag wie der andere.
Das Bild einer 'grauen Drohne' steht für diesen Trott. "Just another day with that endless grey drone." Innergesellschaftliche Erstarrtheit sowie weltpolitische Aufrüstung (NATO versus Ostblock) schwebten wie eine Drohne. In vielen Crossover-Rock-Tunes 1976 bis '82 stecken Antikriegs-Themen, in musikalisch düsterer Dramatik - diese Tendenz reicht von Johnny Wakelins "In Zaire" über Eddy Grants "Living On The Frontline" bis Jona Lewies "Stop The Cavalry". Die Selecter reihen sich auf ihre Art mit lapidaren, lakonischen, desillusionierten, resignierten und bisweilen sarkastischen Zeilen ein. "Three Minute Hero" würde hinsichtlich der Schärfe der Stimme und Vehemenz von Pauline Blacks kehligem Aushusten der Töne erstaunlich drastisch anmuten, wenn es darin wirklich nur um Langeweile ginge.
Hier hilft beim Interpretieren ein anderer Tune: "Danger" mit den Zeilen "Oh, danger, when the red light's shining bright / There's gonna be a terrible fight (...) And little boys who like to fight / Don't grow up to be very tall". Verstehen lässt sich der letzte Satz zugleich als Kommentar gegen den Gewalt ausübenden Rassismus, der sich in der Skinhead-Szene innerhalb der Ska-Anhängerschaft in England bemerkbar machte. Die Folge-LP "Celebrate The Bullet" steuert fortan, deutlicher in der Wortwahl, auf die internationale Kriegslüsternheit jener Aufrüstungsphase, macht in bedrohlich klingenden Intros die "Bullet", den Sprengkopf der Pershing-Raketen, greifbar. Diese Musik folgte eben nicht primär fröhlichem Karibik-Beat, obwohl sie mehrere Songs aus Jamaica covert ("Everyday (Time Hard)", "Murder", "My Collie (Not A Dog)", "Carry Go Bring Home").
Um die Verkündung einer privaten Trennung dreht sich das textarme "Missing Words". "You've got a problem, Baby / it's all over now" ist der wirklich melodiöse Part des Songs, mit dem besonderen Kniff, dass die Stimmen relativ in der Ferne wirken, als schaue man einem Paar mit Abstand beim Streiten zu. Deutlich lauter, präsenter frickeln die Snare Drums, auf denen die Spannung knistert.
Die Gitarre zieht drüber, die Tastentöne lenken den Track ebenfalls. Die Band aus Coventry zieht quasi magnetische Ladungen aus verschiedenen Winkeln an, die sich überlappen und miteinander klanglich den Wettstreit ausfechten. "Missing Words" heißt hier so viel wie: "Es gibt nichts mehr zu sagen". Originell strukturiert die Band das Stück in die Abfolge A – C – A – C – D – B- C – B (Strophe - Bridge – Strophe - Bridge - Break - Refrain – Solo – Refrain) mit Fade-Out. 24 Mal fällt der Ausruf "Missing Words". Was man danach im Ohr behält, ist genau dieser Slogan, während der Part mit "You've got a problem, Baby / it's all over now" quasi noch ein anderer Refrain ist. Die Debütanten suchten immer und fanden oft die Balance zwischen Mitsing-Hooks und sophisticated underground, subkulturellem Besonderssein.
Der Titeltrack und vor allem die Knaller "Missing Words", "Carry Go Bring Home" mit seinem stimmungsvollen "la-la-la-laaa / la-la-la-la-laaa"-Intro, der Dirty Garagerock-geprägte Stomper "Three Minute Hero" und das wiedererkennbare "James Bond" sorgten live für Spaß und Popularität. "James Bond" ist quasi ein Instrumental. Es basiert auf der 007-"Theme"-Titelmusik von Monty Norman und John Barry, der Konstante aller Bond-Soundtracks. Subversiv betexten Pauline und Gaps das "Theme" mit dem Wort 'Tequila', statt mit dem für James so typischen 'Vodka Martini'. Womöglich Paulines Konter auf die Machismo-Körpersprache Roger Moores, den sie im Interview als "The worst James Bond ever" abqualifiziert.
Am 9. Oktober 1979 lud die BBC-Spürnase John Peel die Newcomer ins Studio, um sie dort etliche Stücke live aufführen zu lassen - übrigens gerade nicht die Hits. (Sondern "Danger", "They Make Me Mad", "Street Feeling"). Ab diesem Punkt war man oft schon wer in der damaligen UK-Musikgeschichte. Um die bedeutende Rolle des Radios wussten The Selecter. "On My Radio" ironisiert Berieselungs-Gedudel und ist sogar für Genre-Fremde ein Ohrenschmaus. Hammer-Hammond-Orgel-Figuren, eine sofort eingängige Smash-Melodie, und ein krasser Kontrast zwischen Paulines stimmlichen Höhenflügen und Gaps' brummelig skandierten Sparringspartner-Kontergesängen. Während die Nachfolge-LP dann New Wave-Pop-Einflüsse aufsaugt und sich trotz erheblich politisierender Texte ruhig abspielt, durchgräbt "Too Much Pressure" Jamaikas Ska und erschafft gleichzeitig etwas Eigenes.
Der Claim-Song "The Selecter" schaffte es erst nachträglich auf die Studio-Platte, festigte derweil den Ruf als Live-Act mit exzellenter Show-Struktur. "The Selecter" schlägt stilistisch die Pfade der Talking Heads ein und diene dazu, "selektiert" zu werden, wie die Frontfrau live gerne ausruft, wenn sie die Stimmung anheizt. Das textlose Lied enthält eine der besten Bassgitarren-Linien der Musikgeschichte. Die Band hätte also schon kurz nach ihrer Geburt mehr zu bieten gehabt als das, wofür auf den 38 Vinyl-Minuten Platz war.
2021 erschien ein Box-Set mit den Peel-Sessions plus zwei Konzertabenden aus den Wochen kurz vor und nach Album-Release. Beim Kauf empfiehlt es sich, zwischen den vielen verschiedenen Nachpressungen und einer Flut an Live-Scheiben gut abzuwägen: Manche haben mehr Material, andere das ausbalanciertere Mastering. Das nachträglich in den 80ern hinzugefügte "On My Radio [Bonus Track]" sollte enthalten sein. Manche Konzertmitschnitte geben einen guten Eindruck vom Feuer der Truppe. Denn vor allem on stage lässt diese Formation den Überdruck so richtig raus.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
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