laut.de-Kritik
Leben, lieben, lügen, altern.
Review von Philipp Kause"Ensoulment" ist ein rundum gelungenes Comeback. Dass Matt Johnson alias The The überhaupt noch einmal etwas Großes abliefern würde, war ein Vierteljahrhundert nach "Naked Self" nicht zu erwarten. Seither gestaltete er instrumentale Soundtracks, schrieb Bücher, gestaltete Klangkunst-Radio-Features, brachte aber Wort und Melodie nicht mehr so recht zusammen. In den Achtzigern und Neunzigern bestand darin seine kongeniale Kunst. 2019 nahm er ein Demo auf, doch die Songs blieben unfertig. Er musste sich einer OP unterziehen. Dabei ging es für den Multi-Instrumentalisten um Leben und Tod.
Wie auf seinen Platten früher, die mit Tracks wie "Armageddon Days Are Here" oder "Lung Shadows" Düsternis verbreiteten, Weltuntergang, Tod und Krankheit andeuteten. Das Gesamtwerk des Engländers ist Existenzialismus in Tönen. Als er im März 2020 in einem britischen Krankenhaus liegt, erfährt er von der um sich greifenden Corona-Pandemie. Viele Operationen weltweit werden verschoben, vielleicht wäre er gar nicht unters Messer gekommen, wenn er ein paar Tage später wegen Überfüllung abgewiesen worden wäre, und dann gäbe es jetzt kein "Ensoulment" und kein The The mehr. Er schaut sich schmerzgebeutelt und mit starken Morphinen abgeschossen, die Auslegeware im Klinikzimmer an: Linoleum. Und dann purzeln die Songideen so heraus: "Linoleum Smooth To The Stockinged Foot", "Where Do We Go When We Die?", "Life After Life".
Diese Nummern, wie alles auf der LP, fügen sich nahtlos in den Stil von früher ein. Allgemein war es gerne um Leben/Licht und Tod/Dunkel gegangen, in eigentümlich zweideutiger Art und Weise. Und mit mehrdeutiger Stimme: Geschmirgelt, im kehligen Bariton und manchmal recht hoch. Schon das Meisterwerk "Dusk" war ein Oxymoron. Es kombinierte Angst-Szenarien mit wohliger Wärme, ließ ungezähmte Lebenslust auf die Kälte der Nacht, auf Einsamkeit und Melancholie prallen, konfrontierte Emotionen mit Technik. Johnson schraubt die Melodie von "Life After Life" zwischen Spannungspolen aus Lähmung und Zittrigkeit, Zweifel und Traum, Todesfurcht und irdischer Befremdung hoch. Womöglich trösten soll die zyklische, buddhistische Vorstellung "I remember a day / where you were / before you were."
Das Psychedelische in der Morphium-Studie "Linoleum Smooth To The Stockinged Foot" berstet fast vor Spannung. Stör-Noise und Streicher-Pizzicati reiben sich an den Zeilen "Wissenschaft am Tag - Gebete in der Nacht / der Glaube so zusammen gepresst wie eine Wurst / zum Trocknen aufgehängt / dann zugenäht / mit dem ganzen Gift, immer noch drin." - Das ist echte The The-Handschrift, Horror-Thrill in Harmonien gehüllt, mit Augenzwinkern.
Das zweite Lieblings-Thema lautet bis heute Wahrheit und Lüge und findet seinen Niederschlag in "Cognitive Dissident", wo es nichts zu verbergen gibt ("nothing to hide / nothing to fear"), und in weiteren Liedern kursieren wirre Metaphern wie im Reim "the lexikon is weaponized / the population atomized / information criminalized". Wissen und Information werden zu Waffen, aber auch dämonisiert. In "Down By The Frozen River" heißt es: "Overeducated till the point of stupidity / many lost their spirit as well as their liberty / I escaped with an empty head - but an open mind." Das teils schrille Stück arbeitet sich durch Indoktrination und Gehirnwäsche. Ernst trägt der 63-Jährige vor, phasenweise Spoken Word. Zum Themenkreis gehört "I Hope You Remember (The Things I Can't Forget)" zur Überwachung und Kommerzialisierung von Träumen und weiterem Wahnhaften für die Zukunft.
Der psycho-philosophische Singer/Songwriter ruft heute recht unterschiedliche Reaktionen bei Rock-Fans seiner Generation hervor. Wenn ich in den letzten Wochen Leuten, die The The kennen müssten, von der neuen Platte erzählte, erntete ich teils völlige Unkenntnis, wer The The seien, über verächtliche Schubladisierung als Boomer-Musik der 80er und Schnee von vorgestern, teils aber die konkrete Nennung von Lieblingssongs. Ein amtlicher Hit jedenfalls war "The Beat(en) Generation". Jetzt bedient ein einziger Boomer-Song diese Schiene, "Risin' Above The Need". The The mag in der Zielgruppe mit Paul Weller, Morrissey, Mike Scott und der gerade wiederkehrenden Laurie Anderson Schnittmengen haben, ist aber dadurch nicht out, sondern sogar ein bedeutendes Teilstück der Musikgeschichte: Dort, wo sich New Wave, Storyteller-Rock, Synths und Soul verbanden.
Außerdem steht The The für die Fortführung von Velvet Undergrounds Art Pop-Grundlagen im Jahrzehnt der Synthesizer. Hört man den slighten Soul im Tasten-Intro zu "I Want To Wake Up With You", die lyrischen Sinnfragen in diesem Stück und sägende Töne, die sich in den zunächst stillen Kammerjazzpop mischen, dann fühlt man sich bald der Stimmung von John Cales Alterswerken und deren Nachtatmosphäre nah. "Nostalgie hat diese Angewohnheit, einen zurück zu schlagen ", ätzt der Songtext. Da taucht das dritte große Thema auf: Heute werden die Menschen immer älter, Matt altert, und die Welt rings herum verändert sich atemberaubend schnell.
So schildert der Poet gedankenverloren einen Spaziergang in der Hauptstadt des UK, "das London, das ich kannte, ist schon lange passé", zu finden in "Some Days I Drink My Coffee By The Grave Of William Blake". Anderthalb Kilometer von der Themse liegt das Grab des vor knapp 200 Jahren verstorbenen Dichters und Malers. Als Matt die Scheibe fertig stellte, zogen gealterte Präsidentschafts-Kandidaten in den USA ins Rennen, und auch sie leben in Bubbles jenseits dieser komplexen Welt, auf die der eine alte ausgetretene Antworten und der andere populistisch vereinfachende gibt. Ob sie auch auf Terrorangriffe mit Cyber- und Biochemie-Waffen Antworten hätten? "Eine psychopathische Supermacht spioniert aus der Luft / überträgt Viren in unsere Vorstellungen", malt Matt das Szenario aus, und küsst den Ring des P.O.T.U.S., des Präsidenten of the USA, "Kissing The Ring Of Potus".
Viertes Thema ist die Liebe. Das romantische Abschiedslied "A Rainy Day In May" lässt sich aufs gerne gewählte Thema Mai-Regen ein. Hier darf eine Fiedel (nicht Fiddle!) das dominante Snare-Klatschen untermalen, der mittelalterliche kleine Vorläufer des Cello, und ein Hauch Industrial mischt sich zugleich ins Ende des Albums. Meist aber paaren sich Tunes mit der Theatralik eines Tom Waits mit der rhythmischen Souligkeit und Melancholie eines Bryan Ferry.
Aus diesem insgesamt sehr guten, nachdenklichen und essenziellen Werk bleibt eher ein Gesamteindruck haften als eine konkrete Hook. Dieser Eindruck besagt, dass die Realität verschwimmt, sobald Ängste uns übermannen. Worte, Stimme, Instrumentierung sind alle auf diesen Gefühlszustand zugeschnitten. Somit kann man "Ensoulment" als Konzeptalbum titulieren.
4 Kommentare
Puh... Also "Cognitive Dissonant" ist entweder sehr bedenklich, oder sehr albern. Originell isses jedenfalls nicht, zum x-ten mal "1984" herauszubeschwören. Ist man dann auch noch ein alter Mann, sind die verschwörerische Schwurbelei oder "das wird man ja wohl nich sagen dürfen" quasi um die Ecke.
Die Single mir jedenfalls die Motivation genommen, mehr von der Platte zu hören.
Cool nach so langer Zeit etwas von The The zu hören. Was hab ich in den 80ern Infected und Mindbomb bejubelt. Dann wurde es etwas ruhiger und Dusk und Nakedself haben mich nicht mehr so berührt.
Jetzt, eine Ewigkeit später also: Ensoulment.
Insgesamt sehr ruhig gehalten - maximal bis in Midtempo gesteigert. Sparsame Instrumentierung, klanglich allerdings superb.
In Matt's Stimme musste ich mich wieder reinhören. Wer schöne Gesangslinien sucht, wird sie hier nicht finden. Aber wer auf die Texte achtet...
Ja, der Hit fehlt hier, das haben die 80er Alben voraus. Aber trotzdem ein Album, dem ich schon mehrere Rotationen gegeben habe und das stetig wächst.
(4.5/5)
Produktion, Mastering und Pressqualität der Platte sind ein Traum. Alles heute leider keine Selbstverständlichkeit mehr, schon gar nicht in Kombination. Der warme Klangteppich fließt wohltuend aus den Boxen, bei gehobener Lautstärke kitzelt die Bassdrum angenehm in der Magengrube. Und dennoch will sich bei mir noch keine Euphorie einstellen. Zu ruhig, zu monoton kommt mir das alles rüber. Die großen Melodien und die tanzbaren Nummern der Vorgängeralben sucht man leider vergeblich. Unabhängig davon freue ich mich sehr auf das Konzert nächste Woche.
The The war sensationell, "Infected" für immer ein Klassiker. Freue mich auf die neue Platte, ist bestimmt spannend