laut.de-Kritik
Eine Platte wie ein emotionaler, fiebriger Rausch.
Review von Eberhard DoblerJeder Soundjunkie dürfte eine Handvoll Alben aufzählen können, die seine persönliche Musikbiografie prägten. "Infected" nimmt in doppelter Hinsicht eine zentrale Stellung ein. Erstens hörten mein Kumpel und ich die Platte damals vermutlich ein ganzes Jahr lang jeden Tag - kam danach bei keiner anderen mehr vor.
Und zweitens ist Matt Johnson, der Kopf hinter The The, daran Schuld, dass der Plattenspieler einem CD-Player weichen musste. Weshalb? Mitte der Achtziger fielen einem im Plattenladen fast die Augen aus dem Kopf: Wie, da sind noch drei Tracks mehr drauf als auf der Vinyl-Version zuhause im Schrank?
Die "Infected"-CD musste her, da siegte der Inhalt schon über die Form, auch wenn diese auf der Plattenhülle besser wirkte: Matts Bruder Andrew zeichnet fürs crazy Artwork verantwortlich. Was den Inhalt betrifft, ist es dann nicht so einfach, Johnsons zweites The The-Album in einer Genreschublade abzulegen.
Einerseits ist es in die Postpunk/New Wave-Ära zu verorten, gleichwohl verehrt Johnson den legendären Country-Mann und Blueser Hank Williams (was im Ansatz etwa bei "Out Of The Blue (Into The Fire)" durchscheint). Man könnte bei der Beschreibung aber auch an Atmosphäre und Wirkung von Musik und Text ansetzen. Die acht Songs und besonders die vier Auskopplungen kommen sehr eingängig, aber immer mit dunklem und aufgewühltem Grundton.
Johnsons ringt mit den Verhältnissen, seien es die persönlichen ("I was just another Western guy, with desires that couldn't be satisfied") oder politischen. Addiert zur unverwechselbaren Stimme wirkt die Platte insgesamt ungemein authentisch und als das genaue Gegenteil von gefühlsduselig. Sollte diese Authentizität tatsächlich nur Fake sein - Chapeau im Nachhinein!
Eine The The-Platte hört man so wohl am besten alleine, bei gedämmtem Licht und aufgedrehten Reglern. Besagte Singles sind recht unterschiedlich und durchaus die stärksten Lieder der Platte, an der eine ganze Riege teils prominenter Gastmusiker beteiligt war. Seit der Gründung 1979 bleibt Johnson das einzig konstante The The-Mitglied.
"Slow Train To Dawn", ein zeitloses Duett mit Neneh Cherry, stellt die perfekte Fusion von Liveinstrumenten (Drums, Gitarren) und Programmierung dar und steht so exemplarisch für die gesamte Platte. Derlei Synthiebässe tauchten später wieder im Deep House auf.
Der knallende Titeltrack verbindet ein schnörkelloses Killergitarrenlick mit einem Trompetensolo des englischen Jazzers Guy Barker: "Infected" ist der härteste Track und einer der rhythmusorientiertesten. Das Tempo nach unten schraubt perkussiv und bassig brummend "Sweet Bird Of Truth". Den Solopart übernimmt diesmal ein Saxofon. Beide Songs versieht Johnson mit glasklaren und hitverdächtigen Gesanghooks.
"Heartland", eine akustisch orientierte, von Orchester, unverzerrter Gitarre und Klavier geprägte Ballade, stellt in diesem Sinne die Spitze des Albums dar: Spätestens hier sind Johnsons Qualitäten als Sänger und Songwriter unüberhörbar. Und die als Texter, der so klar benennen kann wie er lyrisch formuliert: Der Song ist pure Gesellschaftskritik am Großbritannien Margaret Thatchers ("This is the land, where nothing changes, the land of red buses and blue blooded babies").
"Angels Of Deception" geht als eine Art Fusion-Song samt Gospel Chor durch. Das dramatisch inszenierte "Twilight Of A Champion" fährt zu Beginn eine aufgeregte Bläsersektion und einen Uptempo-Swing-Feel auf, bevor es in ein zerhacktes Arrangement mündet - alles andere als Stoff für den gemeinen Charthörer. Ein über sieben Minuten dauernder, fiebriger Rausch namens "Mercy Beat" beschließt die Platte.
Roli Mosimann, der seine Spuren u.a. auch bei den Swans, The Young Gods oder New Order hinterließ, produzierte einige Tracks der Platte und schrieb einen mit ("Twilight Of A Champion"). Johnson ließ - ganz dem Ein-Mann-Projekt verpflichtet - auch ein Full Length-Video zur Platte drehen (u.a. von Tim Pope), das er auf Kino-Tour schickte.
Johnny Marr, der später einige Jahre lang The The-Mitglied wurde und den "Infected"-Vorgänger "Soul Mining" in seiner ewigen persönlichen Bestenliste führt, meinte einmal, wenn ihn Matt 1981 gefragt hätte, ob er mit ihm eine Band gründen wolle, hätte es The Smiths nie gegeben. Das oft bemühte Label des 'unterschätzten Künstlers' - Matt Johnson personifizert es wie kein Zweiter.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
12 Kommentare
An die bin ich nie wirklich rangekommen; ganz okay, aber für mehr hat's bei mir nicht gereicht.
Interessanter Name. Ist komplett an mir vorbeigegangen.
ganz toller stein zu recht wird johnson hoch geschätzt von ikonen-kollegen wie wire, cabaaret voltaire oder daf (die alle drei auch mal nen stein brauchen).
bowie hat gail ann dorsey bei the the entdeckt und war so beeindruckt, dass er sie zur stammbesetzung holte.
freue mich sehr über diese wahl und kollege doblers text.
the The - ein Wahnsinn! Soul Mining und Infected einfach die New Wave Klassiker schlechthin. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis dann der Nachfolger Mind Bomb rauskam. Der dann auch ok ist, aber nie an Infected ran kommt. Auch das VHS Video, das es damals von Infected gab und die Vedoes aller Songs enthielt ist ein Burner!
Jau, dank dieser CD habe ich mal ein vierwöchiges Praktikum in Hameln incl. Schneekatastrophe überlebt. Konnte ich 5x pro Tag hören...
Tolle Band bzw. genialer Mastermind Johnssson mit verdienter Würdigung. Der 93er Output Dusk war auch Weltklasse …