laut.de-Kritik
Der Radiohead-Chef gibt den Anti-Bono.
Review von Hannes WesselkämperKurze, prägnante Sätze begleiten die Veröffentlichung von Thom Yorkes zweitem Soloalbum. Sie stammen vom Künstler selbst und finden sich weder auf Promo-Material des Labels noch einem begleitenden Booklet. Label und Booklet gibt es nämlich nicht. Das Pamphlet zu den Modalitäten seines erneuten Alleingangs prangt auf der Radiohead-Website, darunter ein Link zum Filesharing-Protokoll BitTorrent. Hier steht das Werk mit dem programmatischen Titel "Tomorrows Modern Boxes" für nur fünf Euro zum Download bereit.
Yorke spricht von einem Experiment, das den Online-Handel mit Musik zurück zu den verantwortlichen Künstlern lenken könne. Ein Experiment stellt die Verbreitung des Albums deshalb dar, weil BitTorrent seine digitale Infrastruktur zum ersten Mal für den ausdrücklich legalen Vertrieb von Musik nutzt.
Thom Yorke selbst stilisiert sich mit seinem Text (wieder) als eine Art Anti-Bono, der stets den subversiven Weg bevorzugt. Wo der U2-Sänger einst medienwirksam für Kinder in Afrika mit den Fingern schnipste, legt Yorke für das von vielen verhasste Occupy-Camp in London Platten auf. Vor kurzem veröffentlichte Bono mit seiner Band ein neues Album, das bei jedem iTunes-User automatisch in der Musiksammlung auftauchte. Fast wie eine Trotzreaktion wirkt da der Vertrieb von "Tomorrow's Modern Boxes". Yorke wählt mit BitTorrent einen Anbieter, der immer wieder am Rande der Legalität arbeitet, und garniert das Release mit einem hochtrabenden Manifest.
Die Schattenseiten dieser Selbstinszenierung liegen aber auf der Hand. Während sich einerseits User damit beschäftigen, wie sich das Umsonst-Album der Iren wieder löschen lässt, führt man andererseits die (durchaus wichtige) Diskussion um neue Vertriebswege und Künstlerrechte. Dass Thom Yorke acht Jahre nach einem phänomenalen Solo-Debüt endlich einen Nachfolger vorlegt, gerät dabei – wie nicht zuletzt dieser Text zeigt – schnell in Vergessenheit.
"Tomorrows Modern Boxes" kämpft aber gleich an mehreren Stellen um die verdiente Aufmerksamkeit. Von großen Taten kündet etwa das gurgelnde Intro von "A Brain In A Bottle", das sich in Pink Floyd-Manier in die Höhe schraubt. Straffe Drums stellen sich dagegen und bieten mit einem wabernden Bass den zerklüfteten Boden für Thom Yorkes einzigartig fragiles Säuseln. Der Opener, der kostenlos im Netz steht, findet sofort das richtige Maß an Komplexität, ohne die kühle Avantgarde eines "Amok" aufzufahren.
Ebenso buhlt "The Mother Lode" um die Gunst des Zuhörers. Der Titel, der das ertragreiche Zentrum einer Gold- oder Silberader beschreibt, birgt auch musikalisch den soliden Kern des Albums. In Verbindung mit Piano-Samples beschwört die zackige Beat-Struktur eine eigenartige Uptempo-Melancholie, wie sie seit The Postal Service selten zu hören war. Über sechs Minuten erden tiefe Bässe das poppige Stück, das sofort an Yorkes unbändigen Tanz aus dem Video zu "Lotus Flower" denken lässt.
Dazwischen finden sich introspektive Ruhepole wie "Interference" oder der atmosphärische Electronica von "Truth Ray". Beide Stücke unterstützen den reduzierten Tenor des Albums. Selten wirkt "Tomorrows Modern Boxes" sehr ausstaffiert oder gar überbordend. Wo "The Eraser" seine Tonspuren hektisch ineinander greifen ließ, setzt der Nachfolger über weite Strecken auf ein geordnetes Nebeneinander. Doch trotz der Eingängigkeit vieler Stücke stellt sich erst in der zweiten Hälfte eine gewisse Kohärenz ein.
Besonders die abseitigen Klänge fügen sich hier zu einem Guss. So geht der mystisch aufgeladene, mit eigenwilligen Stimmfetzen versehene Techno von "There Is No Ice (For My Drink)" wunderbar in die Ambient-Klänge über, die "Tomorrows Modern Boxes" beenden. Obwohl es doch von beeindruckender Atmosphäre ist, reicht Yorkes zweites Solo-Werk in Vielseitigkeit und Komplexität nicht ganz an das 2006er-Debüt heran.
Hinzu kommt die Diskussion über neue Vertriebswege, die sich zu Ungunsten auf die Wirkung des aktuellen Albums erstreckt. Jedoch bleibt zu erwähnen, dass die zahlreichen Downloads – über 700.000 in nicht einmal einer Woche – Yorkes Zusammenarbeit mit dem Filesharer BitTorrent Recht geben. Das Experiment scheint geglückt und wird sicherlich in Bezug auf das kommende Radiohead-Album eine Rolle spielen.
1 Kommentar
Wunderschönes Album. Ich sehs eigentlich auf einer Ebene mit dem Debüt, allerdings unterscheiden sich die Alben schon ziemlich, wie hier ja auch erwähnt.
Ich persönlich finde allerdings dass "The Eraser" deutlich eingänger war als "Tomorrow's Modern Boxes", und nicht umgekehrt.
Ach und das Video zu "A Brain in a Bottle" ist auf jedenfall sehenwert, allein dafür lohnt sich der Kauf.