laut.de-Kritik

Gothmetal-Klassiker aus Psilos, Psychedelik und Pink Floyd.

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Selten, dass das Titelstück eines Albums lediglich ein nur Sekunden währendes Intro ist. Bei Tiamats "Wildhoney" verhält es sich genau so. Der Hörer bewegt sich durchs Dickicht voll zirpender Insekten und Waldtiere. Starker Duft wilden, wilden Honigs erfüllt die Luft. Ein Piano-Synthie perlt wie Tautropfen von jenen grünen, sonnendurchfluteten Blättern, die vor dem geistigen Auge des Hörers erscheinen. Doch nach nur 52 Sekunden ist Schluss mit kuscheliger Idylle. Wie ein Bi-Händer zerteilt eine wuchtige E-Gitarre das Stilleben. In ihrem Schlepptau folgen Growls und natürlich der als roter Faden durchs Album wabernde "Psylocybe Tea".

Im September 1994 gebären Tiamat mit "Wildhoney" das womöglich schönste Gothic-Metal-Album aller Zeiten. In jener Ära bildet es mit Type O Negatives "Bloody Kisses", Paradise Losts "Draconian Times" und "One Second", My Dying Brides "Turn Loose The Swans" und nicht zuletzt Moonspells "Irreligious" den ästhetischen wie kreativen Höhepunkt eines Genres, das nachfolgend zu viele Schmalspur-Epigonen schändeten.

Psilos, Psychedelik und Pink Floyd ergeben einen Cocktail, der den Metal in damals unerhört gewagtem Ausmaß erweiterte. Vordenker Johan Edlund stand kurz vorher nur knapp davor, Tiamat aufzulösen. Das Vorgängeralbum "Clouds" erschien ihm als halbgar, wie eine verschenkte kreative Chance. Seine damalige Besetzung setzte er vor die Tür, die Stimmung war grufttief im Keller. Zum Glück für die Musikwelt unternahm er mit dem einzig verbliebenen Altmitglied, Co-Autor und Bassisten John Hagel einen in diesen 42 Minuten mündenden Neuanfang.

So schenkt Edlund dem Metal kryptische Texte und eine Wagenladung Psychedelik, wie es Carl McCoy 1990 bereits mit Fields Of The Nephilims Meisterwerk "Elizium" dem Gothic-Rock einimpfte. Kein Zufall: Sowohl jene Platte als auch diverse Pink Floyd-Stücke gibt Edlund bis heute voller Stolz als Haupteinflüsse an. Sie waren ihm damals ein essentielles Grundnahrungsmittel.

Auch wenn Edlunds Lyrics nicht ganz "Eliziums" literarische wie poetische Qualitäten Marke Lovecraft und Crowley erreichen, stehen sie doch meilenweit über dem seinerzeit eher übersichtlichen gemeinen Metal-Textstandard. Wenn er etwa in "Gaia" vom mythologischen Hintergrund in berechtigte Kritik an Tierversuchen und Vernichtung der Natur übt, war dies anno '94 alles andere als genreüblich.

Musikalisch setzt er auf dramaturgisch hervorragend eingewobene Laut/Leise-Kontraste und Tempowechsel. Man höre nur, wie geschickt die eruptive Drogenteehymne "Whatever That Hurts" ins wogende "The Ar" wechselt, ohne das vulkanartige Ausbrechen der Vocals zu mindern. Alle harten Elemente von des Albums Anfang bis zu seinem Ende umhüllt ein Kokon wabernder und funkelnder Soundschichten. Deren instrumentale Kraft wirkt honiggleich als sinnlicher Weichzeichner, ohne die Stücke aufzuweichen oder gar in Richtung Kitsch zu schieben. Zwischendurch in den Vordergrund tretende Klanglandschaften wie "25th Floor" oder das gewitternde "Kaleidoscope" erweisen sich bei wiederholtem Genuss als wichtige Verbindungsglieder jenseits bloßen Verzierens.

Obwohl sämtliche Songs durchaus als Singles für sich allein stehen könnten und in sich geschlossene Themen bergen, sollte man sich das Album unbedingt komplett in vorgegebener Reihenfolge zu Gemüte führen, um das Optimum an Stimmung und Spannungsbogen zu erfahren. An dieser Qualität hat auch Produzent Waldemar Sorychta (unter anderem Despair, Grip Inc, Rotting Christ, Phillip Boa) hohen Anteil. Zwei Jahre später wird Moonspells "Irreligious" davon nicht minder deutlich profitieren.

Obwohl man diese Platte gemeinhin als Metal-Scheibe einordnet, hat das letzte Drittel von "Wildhoney" damit nichts zu tun. Gleichwohl bildet die Zielgerade mit "Do You Dream Of Me", "Planets" und "A Pocket Size Sun" in punkto Intensität und Emotion den absoluten Höhepunkt und sei besonders all jenen ans Herz gelegt, die bei Growls und Ähnlichem peinlich berührt Reißaus nehmen.

Der erste Teil nistet sich per archaischem Rhythmus samt anmutiger Gitarre im Ohr ein. Edlunds ebenso kaminwarme wie sanfte Stimme schiebt alles gen jene Klangfarben, die das Plattencover verspricht. "Planets" zieht hernach in astrale Ambient-Gefilde, die Tangerine Dreams Edgar Froese mit seinen Gitarrensoli bewohnte. "A Pocket Size Sun" nimmt sich im fast zehnminütigen Finale viel Zeit, um seine Ausstrahlung komplett zu entfalten.

Obwohl sich alles peu à peu aufbaut, strebt die Musik keinem Gipfel entgegen. Der Weg ist hier das Ziel, ein nahezu minimalistischer Pfad, an dessen Rand bunte Klänge wie Blumen erblühen und vergehen. Besser kann man solche Musik nicht machen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Wildhoney
  2. 2. Whatever That Hurts
  3. 3. The Ar
  4. 4. 25th Floor
  5. 5. Gaia
  6. 6. Visionaire
  7. 7. Kaleidoscope
  8. 8. Do You Dream Of Me?
  9. 9. Planets
  10. 10. A Pocket Size Sun

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