laut.de-Kritik
Udo-Ultras schlagen zu. Den Rest interessiert es nicht.
Review von Stefan JohannesbergOkay, Jenny und Johnny, ich habe bei den rund 90 Songs bestimmt diesen einen übersehen. Wäre ja auch kaum vorstellbar, wenn der größte Song von Udo Jürgens - "Der gekaufte Drachen" - nicht auf eurer handverlesenen "Udo 90"-Sammlung enthalten wäre, oder? Wie? Ist er nicht? War ich doch nicht mit Altersblindheit geschlagen? Verrückt. Was hat es nur auf sich mit diesem Stück? War es doch auf der siebenteiligen Reihe "Lieder, die im Schatten stehen", der mit Abstand wundervollsten Zusammenstellung von Udo Jürgens' Liedern, ebenfalls nicht enthalten?
Jenny und Johnny Jürgens durften jedenfalls im Jahr des zehnten Todestages und des 90. Geburtstag ihres Vaters nach Geheimtipps diggen, um diese neben die großen und kleinen Hits zu stellen. Und sie sind alle da. Hits wie "Aber bitte mit Sahne" oder "Ich war noch niemals in New York" - check. Geheimtipps von Kollege Kabelitz und mir, etwa "Abends" oder "Illusionen" - check (mehr dazu hier). Fan-Lieblinge wie "Paris" oder "Wien" - check. Peinliche Ausfälle wie "Die Glotze" oder "Zieh' den Kopf aus der Schlinge, Bruder John" - check. Alle Facetten des Künstlers, alle Facetten seiner Persönlichkeit deckt "Udo 90" ab.
Der Gesellschaftskritiker kanzelt Nationalismus ab ("Lieb Vaterland"), gibt sich als Feminist ("Der Mann ist das Problem") oder kritisiert den Papst ("Gehet hin und vermehret euch"). Der Casanova legt die halbe Welt flach, um später als Verlassener im Selbstmitleid zu versinken (mindestens die Hälfte der Lieder). Der Träumer ("Wer hat meine Zeit gefunden") trifft den Säufer ("Der Teufel hat den Schnaps gemacht"), und Fußball ist eh das Wichtigste ("Sempre Roma").
Dazu stoßen noch Stücke, die im Schatten des Schattens stehen. "In Lüneburg war Volksfest" stellt die großen Krisen und Schlagzeilen dem einfachen Leben im Kleinen gegenüber. In "Sperr mich nicht ein" schüttelt Udo im Vorbeigehen Matthias Reim-Schlagerrock aus dem Ärmel, und "Hast du heute schon gelebt" vom "Blauen Album" fasst das sterbenden Liebesleben gewohnt melancholisch zusammen.
Einen neuen Song ("Als ich fortging") kramten sie für "Udo 90" auch aus dem Archiv. Im Beitrag zu seinen Top-Alben schrieb ich: "Im Nachlass entdeckt, erscheint mit 'Als ich fortging' zehn Jahre nach seinem Tod ein Song von Udo Jürgens. Die Ballade aus der 'Treibjagd'-Session Mitte der 80er wirkt wie eine kleine Reise durch sein künstlerisches Leben. Leise und nachdenklich sitzt Udo am Piano und verlässt wieder einmal eine Beziehung, eine Wohnung - auch, wenn ein Teil von ihm gerne bleiben würde. Von ihm, dem ewig aber vergeblich Suchenden, der stets scheiterte, wie der Surfer auf der Suche nach der perfekten Welle. Der Clown, der ihm immer sehr nahe schien und dem er mehrere Lieder widmete, tritt auf. Letzte Briefe werden gelesen und in der zweiten Songhälfte beklagen dicke Streicher Udos Schmerz. Kein Klassiker, aber classic Udo."
Doch welchen Mehrwert bringt vorliegende Zusammenstellung nun mit sich? Die Premium-Version hat immerhin die Form eines hochwertig gebundenen Büchleins und enthält Entstehungsgeschichten zu ausgewählten Songs sowie Fotos aus dem Familienbesitz und ausgewählte Single-Cover. Udo-Ultras schlagen natürlich zu. Der normale Udo-Fan entdeckt vielleicht hier und da noch ein paar unbekannte Perlen, und den Rest interessiert es nicht. Der musikalische (Neu-)wert bleibt überschaubar. Trotzdem rückt Udo Jürgens so wieder mehr in den Fokus, auch auf den Streaming-Plattformen. Zu Recht natürlich. Zu zeitlos sind seine Kompositionen, zu vielfältig sein Schaffen.
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