15. Mai 2013

"Mit 20 sind Gefühle kitschig"

Interview geführt von

Vampire Weekend am Scheideweg? Fünf Jahre nach ihrem viel beachteten Debüt ist nun das dritte Album der Band erschienen: "Modern Vampires Of The City". Wir trafen Ezra Koenig zum Gespräch in Berlin.Inzwischen hat sich der Hype um die US-Band beruhigt, die Kritiker sind weitergezogen, aber Vampire Weekend immer noch da. Mit "Modern Vampires Of The City" wird auch die Frage verhandelt, welche Relevanz die Band noch hat. Bandleader Ezra Koenig spricht von einer gewissen Nervosität, die ihn befallen habe, als es darum ging, neue Songs zu komponieren. Er erzählt aber ebenso davon, wie die Band es geschafft hat, den selbstaufgebauten Druck zu kanalisieren.

So trifft man im karg eingerichteten Zimmer eines Hotels auf der Berliner Friedrichstraße einen 29-Jährigen, der zwar am liebsten seine Musik sprechen lassen würde, sich aber sonst auch schon so seine Gedanken um den Lauf der Dinge gemacht hat.

Als ihr euer zweites Album "Contra" veröffentlicht habt, sagtest du, es sei eine großartige Möglichkeit gewesen, die Grenzen eures musikalischen Spektrums zu erweitern und nicht einfach nur das erste Album zu reproduzieren. War das auch der Anspruch für das nun vorliegende dritte Album?

Ja, definitiv. Wir möchten jedes Album so klingen lassen, dass es eine eigene Welt hat. Und wir wären frustriert, wenn wir das Gefühl hätten, wir wiederholen uns. Deshalb ist der einzige Weg den wir gehen können, uns zu verändern. Aber wir benötigen auch Kontinuität. Ich sehe die verschiedenen Alben am liebsten als Kapitel in einem Buch: Sie sind alle drei aus dem gleichen Buch, von den gleichen Autoren, aber jedes Kapitel treibt die Geschichte weiter voran.

Du hast ebenso angekündigt, dass dieses Album der Schlusspunkt einer Trilogie für euch ist. Ging es euch dabei mehr um die Zusammenfassung der bisherigen Geschichte der Band oder darum, einen neuen Teil hinzuzufügen?

Es ist ein Stück weit eine Zusammenfassung. Das Album ist reflektierender als die anderen. Vielleicht liegt das daran, dass wir älter geworden sind. Es transportiert aber auch neue Haltungen und Empfindungen. Es gibt eine Menge wiederkehrender Charakter und Menschen auf den drei Alben, aber dieses hat einige neue Emotionen.

Welche?

Für mich drückt dieses Album eine Leidenschaft aus, die wir nie zuvor hatten. Mit Anfang zwanzig hatte der Ausdruck von Gefühlen für mich etwas Kitschiges an sich, was ich um jeden Preis vermeiden wollte. Wenn wir also ein Lied über Beziehungen oder Liebe geschrieben haben, wurde das am Ende immer entweder sehr sarkastisch oder scherzhaft. Heute sind wir vielleicht besser im Songschreiben oder ruhiger geworden. Wir können größere, romantischere Themen angehen und zwar auf eine Art, die sich für uns richtig anfühlt. Also, ja: Wir können jetzt Songs mit mehr Leidenschaft und Romantik schreiben.

Würdest du das als normalen Schritt für einen erfahreneren Songschreiber sehen oder genereller als Teil der persönlichen Entwicklung, wenn man in die späten Zwanziger kommt: Sicherer im Umgang mit sich und seinen Gefühlen zu werden und bestimmte Ängste abzulegen, ja ablegen zu müssen?

Ja, du musst selbstsicherer werden. Die ersten beiden Alben haben unser Selbstvertrauen aufgebaut. Das war ein großes Glück. Nachdem das zweite Album draußen war und wir damit Erfolg hatten, habe ich aufgehört mir Sorgen um Fragen zu machen wie die, ob unsere Karriere von einem Tag auf den anderen einfach vorbei ist. Heute denke ich: Wir werden vielleicht irgendwann verschwinden, aber es muss einen triftigen Grund dafür geben.

Wir haben uns quasi etwas Zeit gekauft. Jetzt liegt unser Fokus eher darauf: Können wir es interessant halten? Können wir Neues wagen? Das ist ein natürlicher Schritt, wenn du älter wirst und dein drittes Album angehst. Die emotionaleren Dinge und auch die einfachen Dinge, selbst so musikalisch simple wie der Klang eines Pianos, fühlen sich für uns an wie das Betreten neuer Zonen.

Euer zweites Album erschien sehr schnell nach dem ersten. Wenn du nun sagst, ihr hättet euch etwas Zeit gekauft, meint das auch den Komfort, zu sagen: Wir nehmen uns die Zeit, solange an den Stücken zu arbeiten, bis wir wirklich zufrieden damit sind und werden nicht irgendetwas veröffentlichen, weil es von uns erwartet wird? Passend dazu sagtest du ja einmal, du würdest darüber depressiv werden, mit einem Album touren zu müssen, mit dem du nicht zufrieden bist.

Richtig, das wäre furchtbar. Wir hatten beim zweiten Album das Gefühl, dass wir uns beweisen mussten. Es ist in den Anfangstagen einer Band sehr wichtig, hart zu arbeiten, sozusagen das Fundament des Hauses zu bauen. Bei diesem Album haben wir nichts übers Knie gebrochen, aber wir haben auch nicht absichtlich gewartet. Nachdem wir über mehrere Monate auf Tour waren, brauchten wir nur etwas Zeit, zu entspannen.

Als wir dann über das neue Album gesprochen haben, war ich erst mal verunsichert. Ich hatte die Befürchtung, dass wir zu spät dran sein könnten und unsere Chance verpasst hätten. Ich wollte schon 2012 ein neues Album nachlegen. Ich bin da vielleicht etwas von Zahlen besessen, aber für mich sollten die ersten drei Alben in 2008, 2010 und 2012 erscheinen. Das haben wir verpasst. Doch jetzt, wo wir hier sitzen und darüber reden, bin ich glücklich: Es ist die richtige Zeit für das dritte Vampire Weekend-Album.

Wie schwer fiel es euch zu sagen: Lasst uns mehr Zeit nehmen?

Es war am Ende einfach. Wir hatten eine Menge an Songs geschrieben, von denen wir vielleicht sieben wirklich geliebt haben. Wir hätten sagen können: Okay, lasst uns ins Studio gehen, diese sieben aufnehmen und noch diese fünf mittelmäßigen! Machen wir's einfach! Aber es gab keine Veranlassung dazu. Also haben wir gesagt: Wir brauchen noch mehr Songs! Daraufhin haben wir einige der besten Lieder geschrieben. Wir haben tatsächlich gewartet, bis wir die Songs hatten und dann alles fertigstellen konnten. Manchmal ist es eben so: Egal wie hart du arbeitest, ein großartiger Song bleibt einfach ein Mysterium, auf das du warten musst.

Du hast auch gesagt, dass du deinen Perfektionismus infrage stellen müsstest, wenn ihr vier Jahre an einem Album sitzt. Lag also doch auch eine Schwierigkeit darin, loszulassen und zu sagen: Das Ding ist fertig?

Oh ja. Es ging uns auch darum, den richtigen Punkt in einer Entwicklungskurve zu finden. Einen Punkt, an dem wir uns sicher sind über die Qualität des Stücks, aber noch immer Bammel davor haben, es loszulassen. Wir mussten warten, bis wir genau an diesem Punkt angelangt waren und dann eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung anstellen: Um welchen Prozentsatz wird der Song besser mit jedem Tag, den wir weiter daran arbeiten? Wird er um zwei Prozent besser? Das ist sehr gut. Wird er allerdings nur um 0,00001 Prozent besser? Okay, dann wird es Zeit, aufzuhören.

Ich habe ein paar Interviews gelesen, in denen ihr euch zu den Schwierigkeiten in der Produktion geäußert habt. Dass die Neigung da war, mehr und mehr Dinge in die Songs einzubauen und irgendwann Stopp zu sagen, um das Komplexe wieder zu reduzieren. Habt ihr Spuren um Spuren übereinandergelegt und sie am Ende rausgeschnitten und weggeworfen?

Häufig. Wir haben viele verschiedene Klänge hinzugefügt, aber schlussendlich gemerkt: Wenn der Song stark genug, wenn der Text gut ist, die Melodie gut ist, die Akkordfolgen schön sind, dann brauchen wir nicht viel mehr. Auf dem letzten Album haben wir all diese neuen Klänge hinzugefügt und es wäre ein Leichtes gewesen, diesen Weg weiterzugehen. Wir hätten auch noch den letzten Rest vom Boden eines Fasses namens 80er Jahre kratzen können, wenn wir das gewollt hätten. Aber irgendwann fühlt sich das effekthascherisch und langweilig an. Es ging uns viel mehr um Qualität bei diesem Album: Hat es eine gute Basslinie? Ist es ein schöner Klavierpart? Vielleicht ist es das dann einfach?

"Eine gute Karriere ist nie ein gerader Weg"

Mein Eindruck ist, dass viele Bands Probleme damit haben, es speziell auf dem dritten Album, wie von dir beschrieben, einfach zu halten. Hast du eine Idee, worin das Problem für eine Band liegt, an dieser Stelle der Karriere zu sagen: Wir können einfache Songs machen, die gut genug sind? Wir müssen nicht ein solch dichtes Bild entwerfen, dass die Idee dahinter immer mehr verschwimmt?

Es ist etwas in der Zahl Drei, das grundsätzlich schwierig ist. Du machst eine Sache, du hast eine Idee, ganz einfach. Dann machst du ein zweites Album und alles, was du dabei anders machst, ist zu bemerken und wird bemerkt. So wie du auch zwei sehr ähnlich aussehende Menschen betrachten kannst und dennoch die Unterschiede zwischen beiden wahrnimmst. Kommt dann aber eine dritte Person hinzu, wird es interessant. Viele Leute beginnen, vom ersten auf das zweite Album damit, neue Dinge hinzuzufügen und manchmal funktioniert das. Und dann geraten sie durcheinander und beginnen zu denken: "Okay, das hat uns verbessert. Je mehr wir unserem Spektrum hinzufügen, umso besser werden wir."

Damit beginnen sie schon, einen geraden Weg zu begehen, eine gute Karriere ist jedoch nie ein gerader Weg. Sie gehen den immer tiefer und tiefer, fügen weitere, vielleicht auch alberne Sachen hinzu und das Ganze beginnt, immer bedeutungsloser zu werden. Also wir sind auch keine Experten. Das ist unser drittes Album und wer weiß schon, wie es mit uns weitergehen wird. Aber bevor wir Musiker sind, sind wir in erster Linie Musikfans.

Warum hat Bruce Springsteen so eine Dekaden umspannende Karriere gemacht? Weil er der coolste Typ der Welt ist und den Finger immer am Puls der Zeit hat? Mit Sicherheit nicht. Es liegt daran, dass es ihm zu jeder Zeit um die Qualität seiner Songs ging. Und das ist für mich das Wichtigste überhaupt. Wenn du das Glück hast, so cool zu bleiben wie David Bowie und dazu auch noch solche Songs und Ideen hast, umso besser.

Ich kann mich an ein Interview erinnern, das du im vergangenen Jahr mit Hamilton Leithauser, dem Sänger der Band The Walkmen geführt hast.

Oh ja, das war ein großer Spaß.

Darin erwähnte er, dass er 36 Songs geschrieben hatte, bevor er überhaupt ins Studio ging, um seine neue Platte aufzunehmen. Du hast ganz erstaunt geantwortet: Wow, so viele! Verfolgt ihr da unterschiedliche Philosophien des Schreibens? Zu sagen, wir machen erstmal ganz viele Songs und wählen dann die besten fürs Album aus oder gleich nur zehn Titel, die dann aber so gut wie nur möglich?

Für uns ist es irgendetwas dazwischen. Wir haben da eine Art Spartaner-Attitüde: Wenn im griechischen Sparta ein Kind geboren wurde und irgendwie seltsam aussah, wurde es getötet. Das unterstütze ich natürlich nicht, aber bei Musik ist das unsere Attitüde. Wenn wir eine Idee haben, dann schauen wir die uns sehr streng an und fragen, ob sie es wert ist, hunderte Stunden unseres Lebens darin zu investieren und den Song wachsen zu lassen. Wenn es darin etwas gibt, das nicht stark genug ist, dann töten wir es. Nicht jeder Song ist für uns perfekt, aber wir haben ein äußerst brutales System des Schneidens, sozusagen im Sinne von Überleben des Stärkeren.

Ihr wart immer eine Band, die Einflüsse aus allen möglichen Richtungen aufnimmt und ihr wurdet dafür bewundert, daraus etwas Einzigartiges zu kreieren. So sieht es beispielsweise der Musikjournalist Simon Reynolds in seinem Buch "Retro Mania" und fügt an, dass das in diesen Zeiten eher eine Seltenheit ist. Der Albumtitel "Modern Vampires Of The City" ist ein Zitat aus dem Reggae-Song "One Blood" von Junior Reid aus dem Jahr 1990. Warum habt ihr diesen Titel gewählt?

Das hatte viele Gründe. Der dümmste davon ist, dass ich eine Verbindung gesehen habe zwischen Vampire Weekend und Modern Vampires of the City. Es ist einfach naheliegend, ein neues Album von Vampire Weekend, das in Manhattan verortet ist, "Modern Vampires Of The City" zu nennen. Auf der tieferen Ebene ist es so, dass ich schon immer ein großes Interesse an Reggae-Texten hatte. Schon in meinen Kindheitstagen hat mich mein Vater, der ein großer Reggae-Fan war, immer wieder auf die Parallelen zwischen Judentum und Rastafari hingewiesen. Das war für mich eine interessante Verbindung. Je mehr Reggae ich hörte und die Texte studierte, desto mehr bemerkte ich, wie dort das Bild des Vampirs immer wieder auftaucht. Die Leute reden natürlich nicht so oft über Vampire wie über Babylon und Zion und Philosophie, aber es ist vorhanden.

Es gibt dieses Lied von Bob Marley, "Babylon System", in dem er von Vampiren erzählt und einer meiner liebsten Peter Tosh-Songs heißt "Vampire". Ich war immer an diesem Thema und der Tatsache interessiert, wie eng das Bild des Vampirs mit der Idee von Babylon verknüpft ist. Der Vampir ist eine Person oder ein Wesen, das andere Menschen ausnutzt, eine Art Feind im positiven Sinne: der Feind der Einigkeit. Und wenn du in New York lebst, der Stadt, die bekannt ist für Banker und einen harten Zugriff der Regierung, dann ist diese Idee sehr präsent. Aber es wäre unfair von uns, eine bestimmte Gruppe den Modern Vampire of the City zu nennen. Wir alle haben diese Art von Habgier und Egoismus in uns. Wenn wir von Vampiren sprechen, dann können wir nicht mit Fingern auf andere zeigen. Es steckt auch ein wenig Selbstkritik dahinter, ein Stück des Zeitgeists und wie sich die Menschen in diesen Tagen fühlen.

Das passt dann ja auch gut auf deine Band. Zu Beginn eurer Karriere wurdet ihr ja massiv dafür kritisiert, euch afrikanischer Musik bedient zu haben, die eigentlich geschützt und bewahrt werden sollte.

(lacht) Wie imperialistische Vampire, nicht wahr? Diese Art der Kritik war ein bisschen verrückt. Natürlich mussten wir uns damit auseinandersetzen, ich hatte aber nie den Eindruck, dass diese Leute fair mit uns umgegangen sind. Ich stimme darin überein, dass es wichtig und interessant ist, über kulturelle Verweise zu sprechen und manchmal musst du sie auch kritisieren. Was uns betrifft, hatte ich manchmal den Eindruck, dass da Leute aufgetreten sind, die unbedingt etwas kritisieren wollten und sich dafür eben uns ausgesucht hatten. Das hat nicht wirklich Sinn ergeben, aber ich habe verstanden wo der Impuls dafür herkam.

Ihr wurdet deswegen hart angegangen: Es wurde das Image eines weißen wohlhabenden Mannes aufgebaut, der nie irgendwelche Probleme hatte und vor allem nicht solche, um die es in den Songs geht, von denen er klaut. Fühlst du dich noch immer in einer Art Krieg gegen die Kritiker?

Das zweite Album war eher die Antwort. Ich war damals viel wütender und wollte diesen Leuten klarmachen, dass sie keine Ahnung von uns haben, dass sie dumm sind und unseren Humor nicht verstehen. Jetzt bin ich entspannter. Ich weiß, dass wir echte Fans haben, denen wir wichtig sind. Und wir haben Leute, die uns schon immer hassen und uns niemals irgendeine Form der Anerkennung geben werden. Ich verstehe das, es erscheint auf eine Art witzig: Wenn jetzt Leute ankommen und sagen, wir wären die weißeste Band der Welt, dann kann ich nur lachen und fragen: Wenn wir tatsächlich die weißeste Band der Welt sind, wie kommt es dann, dass Neonazis uns nicht mögen? Es wirkt auf mich einfach sehr dumm, darüber auf diese Art nachzudenken. Die Musik ist die Reaktion.

"Unsere Songs altern gut"

Ich bin über einen Text gestolpert, in dem über euren ersten Auftritt mit den Songs eures Debütalbums im Januar 2008 in New York berichtet wurde und erst dabei ist mir klargeworden, dass es Vampire Weekend nun auch schon fünf Jahre gibt und gleichzeitig dieses Jahr 2008 so verdammt weit weg erscheint. Wie fühlt es sich für dich an?

Immer wenn ich anfange zu realisieren, dass das jetzt tatsächlich fünf Jahre her ist, fühlt es sich etwas verrückt an. Deshalb geht es auf unserem neuen Album auch häufig um das Thema Zeit und hört man viele tickende Uhren. Der momentane Zeitenlauf ist eben auch ein sehr merkwürdiger. Wenn ich mir dieses erste Album anhöre oder wir die Songs davon auf Festivals spielen, dann fühlt es sich nicht alt an. Eine Platte fühlt sich immer frisch an, wenn sie herauskommt. Aber ist sie wirklich gut, beginnt sie sich mit der Zeit mehr und mehr anzufühlen wie eine gute Erinnerung. Ich mag die Art und Weise, wie unsere Songs älter werden, sie altern gut. Das kann man aber vorher nie wissen.

Ihr wart damals im Zentrum eines großen Hypes. Heute hat sich das wieder woanders hin verlagert, ohne dass so richtig klar ist, was die prägende musikalische Bewegung dieser Zeit eigentlich ist. Es scheint, als ob neue Trends und Hypes immer schneller kommen und wieder gehen, aber als einzelne eine weitaus geringere Breitenwirkung entfalten. Wie siehst Du das?

Richtig, es gibt heute weniger allumfassende Bewegungen als es früher der Fall war. Wenn man die Geschichte dieser Ära schreiben wird, wird das nicht so einfach werden wie: Hier hatten wir Rock'n'Roll, dann gab es Psychedelic Rock, dann Funk. So klar wird es nicht sein. Es geht heutzutage viel mehr um einzelne sehr individuelle Leute, wie Grimes zum Beispiel. Es geht mehr um das Individuum und ich finde das gut so.

Wir leben in der Zeit nach der goldenen Ära des Hip Hop. Die Ideale des Hip Hop haben inzwischen alles durchdrungen. Es ist sehr aufregend, sich vorzustellen, jetzt noch einmal 14 oder 15 Jahre alt zu sein, um festzustellen, welchen Blick die heute aufwachsenden Kids auf die Musik haben. Als ich aufgewachsen bin, hat auch schon jeder Hip Hop und R'n'B gehört, aber es gab noch immer diese Dominanz der Rockbands. In der Zwischenzeit ist das aber komplett zerlegt und zunichte gemacht worden. Das ist ein sehr neuartiges Freiheitsgefühl.

Heute habe ich die Freiheit, über das Internet Radio aus Australien zu hören, wenn mir meine Lokalsender nicht gefallen. Ich kann weltweit Platten kaufen, wo ich früher alle möglichen Läden durchforsten musste, um die eine besondere zu finden. Netzbasiertes Streaming und quasi unbegrenzte Speichermöglichkeiten haben Kulturgüter für uns Hörer viel leichter zugänglich gemacht. Denkst du, dass das auch einen Einfluss hat auf die Art, wie wir Musik aufnehmen und welche Wertigkeit ihr von uns verliehen wird?

Sicher, aber all das sind nur Werkzeuge. Dein Musikgeschmack und deine Plattensammlung waren schon immer ein Werkzeug und jetzt ist es eben ein noch größeres und einfacher zu bedienendes. Aber es ist weitaus komplizierter zu erlernen, was man eigentlich damit anfangen möchte. Und in diesem Sinne hat sich nichts verändert. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt gibt es kulturelle Informationen und den Zugang dazu hat inzwischen jeder. Aber eine originelle Idee zu haben wird immer selten und deswegen auch anstrebenswert bleiben. Aus diesem Grund wird es, denke ich, immer einen ähnlich großen Anteil an guter Musik geben. Es wird immer gute Musik geben.

Im erwähnten Buch von Simon Reynolds wirst du in einer Passage, in der es um kulturelle Identität geht, mit den Worten zitiert: "Wir sind sowohl von allem entfremdet, als auch mit allem verbunden." Welche Konsequenzen hat diese Haltung für deine Arbeit als Musiker?

Die amerikanische Identität ist eine sehr unklare, das ist offensichtlich. Jeder hier weiß, dass er in Amerika geboren ist, aber fast alle stammen von woanders her. Besonders als ich aufgewachsen bin, waren sich die Leute sehr bewusst darüber und haben das betont. Wenn deine Familie zum Beispiel aus Italien stammt, bist du ein Italoamerikaner. Du bist zwar Amerikaner, du bist in Amerika geboren, du sprichst Englisch, aber du vergisst deine Wurzeln nicht. Die meisten Menschen hier stehen mit ihren Füßen in zwei verschiedenen Welten und das gibt dir mehr Perspektiven.

Wenn ich aber Menschen sehe, die von einer multikulturellen Welt verwirrrt oder verunsichert werden und sich daraufhin entschließen, eine künstliche Identität aus ihrem Erbe zu konstruieren, wirkt das auf mich so aufgesetzt wie nur irgendwas. Je mehr du vorgibst, nur einer einzigen Sache anzugehören, desto mehr belügst du dich selbst. Ich kann zwar vorgeben, dass ich mich mit Österreich, Polen oder Rumänien, wo meine Familie ursprünglich herkommt, identifiziere. Aber diese Orte existieren nicht mehr in der Form, wie sie es früher getan haben.

Ich kann vorgeben, dass ich mich mit Israel identifiziere, weil es ein jüdisches Land ist. Israel hat aber dennoch nichts mit mir zu tun. Identität ist etwas sehr kompliziertes. Man muss das so annehmen, ebenso wie man die moderne, multikulturelle Welt um einen herum annehmen muss. Mit Musik ist es dasselbe: Wenn dein Musikgeschmack so komplex ist und du selbst in einer komplexen und multikulturellen Welt lebst, musst du natürlich herausfinden – und das ist harte Arbeit – welche Dinge für dich eine Bedeutung haben.

Wir könnten vorgeben in einer Rock'n'Roll-Tradition zu stehen, weil wir eine vierköpfige Band von weißen Männern sind. Aber wir würden uns damit selbst belügen und die Musik würde auch nicht gut klingen, denn es wäre verlogen. So lange man Respekt vor der Musik hat, die man liebt, sehe ich kein Problem. Jedes unserer Alben wird immer voll von Verbindungen und Verweisen sein. Wäre es das nicht, dann wäre es ein Fake und würde völlig zurecht zerrissen werden.

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