laut.de-Kritik
Widrige Umstände, fantastische Musik.
Review von Giuliano BenassiKeine Security, kaum Klos, nichts zu essen, medizinische Versorgung Fehlanzeige – Woodstock war organisatorisch eine Katastrophe. Heutzutage würden die Veranstalter angesichts solcher Rahmenbedingungen noch direkt vor Ort gelyncht und anschießend mit so vielen Klagen konfrontiert werden, dass sie nach Afghanistan auswandern müssten, um ...
Halt! Stopp! Das hatten wir doch alles schon. Lassen wir mal Berge an Müll und schlechtes LSD beiseite und beschäftigen uns diesmal mit dem Film und dem dazugehörigen Soundtrack, die vor allem eines erzeugen: Sehnsucht nach einem einzigartigen Ereignis in der neueren Geschichte, das zwischen dem 15. und dem 18. August 1969 stattfand.
'3 Days of Peace & Music', lautete das offizielle Motto der Veranstaltung. Die gar nicht in Woodstock stattfand. Den Bewohnern der Ortschaft, die sich 160 Km nordwestlich der Metropole New York befindet, reichte es offenbar, Bob Dylan als Eindringling zu haben, und weigerten sich, das geplante Grundstück freizugeben.
Schließlich wurden die Organisatoren um Lockenkopf Michael Lang in einem Kaff namens Bethel bei einem Bauern namens Max Yasgur fündig, rund 100 Km südwestlich des namensgebenden Woodstock. Die Begeisterung hielt sich auch dort in Grenzen. ""Buy No Milk. Stop Max's Hippy Music Festival", schrieben Bewohner auf ein Schild.
Ihre Befürchtungen waren begründet. 50.000 Zuschauer hatten die Organisatoren im Antrag angegeben, knapp 200.000 Tickets gingen im Vorverkauf weg, 400.000 Zuschauer sollen es schließlich gewesen sein. Der Andrang war so groß, dass die Tore schließlich geöffnet wurden. Die Folgen für Verkehr (eine endlose Schlange), Lebensmittelversorgung und Klos lassen sich leicht vorstellen. Das Gelände sah danach aus wie ein Frontabschnitt im Ersten Weltkrieg.
Vor allem bot das Festival aber zwei Dinge: Eine fantastische Stimmung und ebensolche Musik. Dass Letztere aufgrund der ewig kreisenden Hubschrauber, die die Musiker her- und weg schufen, und der ungenügenden Soundanlage nur für wenige zu hören war, führte erstaunlicherweise zu wenig Unmut. Schließlich konnte man anderswo gemütlich kiffen, nackt baden oder Liebe machen.
Für Musik und Bilder sorgten ein Jahr später ein Kinofilm und der dazugehörige Soundtrack auf drei LPs. Dank der 100-köpfigen Filmcrew und professionellem Equipment war die Qualität erstaunlich gut. Auch wenn sich Produzent Eric Blackstead für die eine oder andere holprige Stelle entschuldigte. "Sie sind wie Narben auf edlem Leder, ein Beweis des Ursprungs und der Güte des Materials, in dem sie auftreten", fügte er hinzu. Der sehenswerte Streifen von Regisseur Michael Wadleigh gewann den Oscar für den besten Dokumentarfilm.
Untypisch für damals erzählte der Soundtrack einen Geschichte, indem Ansagen der Organisatoren und Publikumsgesang zwischen den Liedern eingeblendet wurden. Der berühmteste ist wohl der "Crowd Rain Chant", den Neil Young 1978 auf "Live Rust" wiederholte.
Ja, Neil Young. Eine der viele Prämieren in Woodstock, denn hier spielte er zum ersten Mal mit Crosby, Stills and Nash. Ein musikhistorischer Moment, denn aus dem Folkrock-Trio, das hier selbst erst zum zweiten Mal auftrat, wurde als Quartett eine der erfolgreichsten Rock-Bands der folgenden Jahre. Warum, zeigt sich hier eindrücklich: mit Young ("Sea Of Madness", "Wooden Ships") geht es zur Sache, auch wenn das zarte "Suite: Judy Blue Eyes" ebenfalls zu den Höhepunkten des Festivals gehört.
Nicht dazu zählen John Sebastians Beiträge, die viel zu zaghaft klingen. Kein Wunder, stand der berühmte Sänger von Lovin' Spoonful eigentlich nur als Gast im Backstagebereich, als er von den Organisatoren am zweiten Tag mehr oder weniger auf die Bühne gezerrt wurde, da gerade niemand anderes zur Verfügung stand.
Die chaotischen Zustände brachten auch tolle Momente hervor. Der wenig bekannte schwarze Folksänger Richie Havens, der das Festival eröffnete, wurde immer wieder auf die Bühne geschickt, da die Folgeband im Verkehr stecken geblieben war. Schließlich improvisierte er den Gospel "Motherless Child" mit solcher Inbrunst, dass er als "Freedom" zu seinem bekanntesten Lied wurde. Alles gab auch Joe Cocker, dessen Version von "With A Little Help From My Friends" im Heimatland Großbritannien bereits 1968 die Spitze der Charts erklommen hatte und ihn hier nun zum internationalen Star machte.
Seine kleinen Freunde konnten aber nichts gegen das Unwetter ausrichten, das zu einer mehrstündigen Unterbrechung führte und der Organisation den letzten Dolchstoß verpasste. Das allgemeine Chaos kam nicht bei allen gut an. The Who bezeichneten ihren Auftritt in Woodstock als einen der schlechtesten ihrer Karriere, auch wenn "We're Not Gonna Take It" aus ihrem Musical "Tommy" ein Hammertrack bleibt. Unvergessen blieb der Gig auch für Aktivist Abbie Hoffmann, der die Gitarre Pete Townshends unsanft zu spüren bekam, als er ungebeten auf die Bühne hüpfte. Um fünf Uhr morgens, wohlgemerkt.
Creedence Clearwater Revival, die als erster Top-Act unterschrieben hatten, waren gar so sauer, dass sie nicht auf den Soundtrack wollten und auch im Film nicht zu sehen sind. Wie auch Janis Joplin, allerdings weil sie um zwei Uhr morgens so platt war, dass ihr Label die Genehmigung verweigerte.
Eine erstaunliche Ausdauer zeigte auch Joan Baez, obwohl sie im sechsten Monat schwanger war. Fröhlich erzählte sie dem Publikum um Mitternacht von ihrem Ehemann, der sich geweigert hatte, in den Vietnam-Krieg zu ziehen und deshalb im Knast saß. Nebenbei schaffte sie es, dem späteren US-Präsidenten Ronald Reagan eine zu verpassen, denn "Drug Store Truck Driving Man" war dem früheren Schauspieler gewidmet, der zu diesem Zeitpunkt Gouverneur Kaliforniens war.
Santana war so gut wie unbekannt, als er am Mittag des zweiten Tages die Bühne betrat. Seine mitreißende Interpretation von "Soul Sacrifice" beförderte sein Debütalbum wenige Monate später auf Platz vier der Charts. Ten Years After waren in Großbritannien wohlbekannt, doch die wahnsinnige Gitarre in "I'm Going Home" machte sie, oder besser Alvin Lee, auch in den USA zu Stars.
Letztlich wurde "Woodstock" zu einem Gütesiegel für alle Bands, die teilgenommen hatten. Auch wenn sie schon bekannt waren, wie etwa Jefferson Airplane oder Sly And The Family Stone. Besonders gilt das für Jimi Hendrix, der sowohl die nicht chronologisch angeordneten Film und Album wie auch das Festival abschloss.
Dass er scharf auf den Auftritt war, zeigt der Umstand, dass er eine Gage akzeptierte, die weit unter seinem üblichen Niveau lag. Als er am Montag um acht Uhr morgens auf die Bühne trat, waren die meisten Zuschauer bereits abgereist, doch seine Version der US-Nationalhymne machte das Ausharren mehr als wett. Hendrix' Gitarre imitierte das Heulen fallender Bomben und schuf ein Klanginferno, aus dem die letzten Takte der Hymne schließlich kristallklar hervorgingen. Das ultimative Statement gegen den Vietnam-Krieg, so die Interpretation vieler, obwohl es der Gitarrist selbst anders sah. Fest steht, dass er mit Drogen vollgepumpt mehrere Tage lang nicht geschlafen hatte und mit einer improvisierten Band aufgetreten war, die überhaupt nicht harmonierte.
"It was the most electrifying moment of Woodstock, and it was probably the single greatest moment of the sixties" erklärte die New York Times später. "Star Spangled Banner" war wie das gesamte Festival ein Beweis dafür, dass auch bei widrigsten Umstanden (oder gerade deshalb?) Außergewöhnliches, ja Historisches, geschehen kann.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
7 Kommentare mit 2 Antworten
Man könnte auch sagen: die Saat der US-Think Tanks zur Destablilisierung der alten Werte wie Familie, ... usw. ist aufgegangen.
?
...What???
Hier meine Meinung zu der Platte:
Ich bin da eher im 3 Sterne Bereich. Alleine Joan Baez ist ein Punkt Abzug...ich weis nicht ob irgendwer den Film mal gesehen hat(Scherz), aber ich hab ihn in den 80ern mal in einem kleinen Kino gesehen...Nachtvorstellung...Lautstärke bis zum Anschlag aufgedreht....und bei Joan Baez musste ich dann kurz auf die Toilette...ich ertrage ihr Organ einfach nicht.
Sha Na Na sind /wahren schon immer 3.Liga musikalisch, und auch mit John B. Sebastian kann man mich Meilenweit jagen.
Die 3 Punkte retten eigentlich(aus meiner Sicht) nur Joe Cocker, Ten Years After, Santana und The Who....Jimi Hendrix hinterlässt immer noch einen zwiespältigen Eindruck...
P.S. wo bleibt eigentlich der Dire Straits Meilenstein??
P.P.S. Bitte aber das Debüt und nicht Brothers in arms...
Das ist deine Meinung zu Joan Baez ich finde sie hat eine tolle Stimme und Jimi Hendrix war einer der besten Gitarristen aller Zeiten.
Woodstock !!!
Gutes Review von Giuliano Benassi.
Ich kannte damals nur diesen Namen Woodstock.
Die Hippies und die guten Bands meiner Zeit.
So stand ich im Plattenladen und überlegte.
Mein Taschengeld war dann futsch.
Ich hab mir die 3 Scheiben das ganze Wochenende
über reingezogen.
Das war wie Musik vom anderen Stern.
War eine gelungene Darstellung einer ganz besonderen Zeit.Man sollte sich neben diesen offiziellen Scheiben mal die Compilations der hier nicht veröffentlichten Stücke anhören,dazu ruhig auch einige Bücher über dieses Ereignis lesen.Dann begreift man erst diese Zeitenwende.
Und Sly and the Family Stone werden fast nicht erwähnt aber die Band hat früher sehr viel gute Soul Musik gemacht.
Joe Cocker ist auch legendär alleine wegen dem Beatles Cover With a Little Help from My Friends.