18. Januar 2021

"Nordische Tradition ist das Ergebnis von Migration"

Interview geführt von

Die TV-Serie "Vikings" verschaffte Wardruna vor einigen Jahren einen enormen Popularitätsschub. Kürzlich folgte mit "Assassin's Creed Valhalla" das nächste Blockbuster-Projekt. Dabei bleibt die Musik der norwegischen Neofolker weiterhin Nische und ihrem Kern treu. Unbeirrt vom Erfolg konzentriert sich Mastermind Einar Selvik auf die sorgfältige Pflege, vor allem aber auch das Weiterdenken altnordischer Tradition. Dass das nichts mit Romantisierung zu tun hat, stellt er im Interview zum neuen Album "Kvitravn" ausdrücklich klar.

"Es bringt mehr, nach vorn zu schauen als nach hinten", bringt Einar Selvik den Ansatz Wardrunas auf den Punkt. Sicher auch dieser Einstellung ist zu verdanken, dass Selvik anderen Akteuren der zuletzt stark gewachsenen Neofolk-Nische künstlerisch weit voraus eilt. Von pauschaler Romantisierung der Wikinger und Co. hält der Norweger rein gar nichts. Vielmehr möchte er relevante Inhalte nordischer Mythologie und Bräuche ins Jetzt übertragen, neu aus- und weiterdeuten. "Die Vergangenheit zu kopieren oder seinen liebsten Runenstein abzulesen ist nicht sehr schwierig – aber Altes zu nehmen und daraus etwas Neues zu schaffen, das ist eine Herausforderung."

Auf "Kvitravn" tut er das freier als bisher. Während sich die ersten drei Studioalben ("Runaljod – Gap Var Ginnunga", "Runaljod – Yggdrasil" und "Runaljod – Ragnarok") am Runenalphabet des Älteren Futhark entlang hangelten, fehlt ein solcher Rahmen nun. An Stoff mangelte es dem mittlerweile auch des Öfteren auf wissenschaftlichen Konferenzen sprechenden Animisten freilich nicht. Er gewährt uns einen Einblick in seine Inspirationen und Herangehensweise, seinen Umgang mit Überlieferungen und unterstreicht die Wichtigkeit moderner Technologie für seine Arbeit...

Beginnen wir mit der offensichtlichen Frage: Wardruna war ursprünglich für die "Runaljod"-Trilogie angelegt. Die ist seit einer Weile abgeschlossen. Welches Konzept verfolgst du nun mit dem Projekt?

Einar Selvik: In vielerlei Hinsicht knüpfen wir da an, wo wir mit der "Runaljod"-Trilogie aufgehört haben. Wardrunas Semantik dreht sich natürlich stark um Animismus in verschiedenen Formen – die Beziehung zwischen Mensch und Natur, von Mensch zu Mensch und zu etwas, das größer ist als du selbst. Was sich für dieses Album geändert hat, ist denke ich, dass ich näher an verschiedene Konzepte, Traditionen und Ideen nordischer Geschichte heranzoome. Dass es mehr ins Detail geht, ist wahrscheinlich der größte Wandel.

Kann man sagen, dass es weniger Richtlinien gibt und du etwas freier an Themen herangehst?

Naja, ich würde schon sagen, dass es einen roten Faden gibt. Viele Themen werden auf unterschiedliche Weise mehrfach aufgegriffen, stehen miteinander in Verbindung und interagieren miteinander. Aber klar, bei der "Runaljod"-Trilogie gab es eine sehr spezifische Aufgabe, die zu erfüllen mich 15 Jahre meines Lebens gekostet hat. Danach war ich freier, alte Ideen aufzugreifen, die ich während dieser 15 Jahre aber nicht weiter verfolgt hatte. Es war ein zweischneidiges Schwert: Einerseits hatte ich natürlich die freie Wahl – andererseits ist diese Freiheit ziemlich herausfordernd. Die Optionen sind mannigfaltig und ich brauchte einige Zeit, um zu entscheiden, was ich mit diesem Album sagen möchte.

Wann hast du den Punkt erreicht, an dem du wusstest, was du ausdrücken möchtest?

Es war ein organischer Prozess. Ich fing an mit einigen allgemeinen Gedanken. Ich wollte Konzepte vertiefen, bei denen es darum geht, wie Menschen sich selbst definieren, die verschiedenen Bestandteile dieser Definitionen und unsere Beziehungen zur Natur. Gewissermaßen wurde die Perspektive insgesamt menschlicher und kann vielleicht persönlicher erfahren werden – obwohl es das nicht unbedingt ist.

Wie wichtig ist dir, dass Hörer, die dem Altnordischen nicht mächtig sind, sich über den Inhalt der Texte informieren?

Für mich sind die Texte sehr wichtig. Deshalb ermutige ich die Leute immer, sich auch das Booklet zuzulegen – sei es als physisches Produkt oder digital. Auch bei letzterem bekommst du das Booklet inklusive englischer Übersetzung. Natürlich kannst du die Musik auch ohne die Lyrics genießen, aber dabei fehlt doch die Hälfte. Man verpasst etwas ohne die Lyrics, sie fügen dem ganzen eine weitere Dimension hinzu.

"Die Vergangenheit zu romantisieren, ist nicht sonderlich konstruktiv"

Im Stück "Viseveiding" beschreibst du ein "Jagen nach Liedern". Siehst du so deinen Songwriting-Prozess oder verbirgt sich eine andere Metapher dahinter?

Im Endeffekt beschreibt es eine nordische, animistische Tradition bzw. Ansicht, nach der alles ein Lied oder einen Klang besitzt. Und um Dinge zu erfahren, machst du dich auf die Suche nach ihren Klängen und Liedern. Anwendung findet das zum Beispiel oft in Volksmedizin. Willst du einen Schlangenbiss heilen, musst du den Song der Schlange kennen. Das bezieht sich also auf eine alte animistische oder schamanische Praktik und darauf, wie Songs mythisch wahrgenommen wurden – teils auch als Magie, Hexerei. Und klar, als Animist, der ich bin, übertrage ich das natürlich auch auf mein eigenes Songwriting. Als Metapher kann man es ohnehin betrachten. Ich versuche meine Lyrics sehr offen zu schreiben, um viel Raum für die Hörer zu lassen, ihre eigene Interpretation zu finden.

Die Interpretationsoffenheit gilt für andere Songs noch stärker als für "Viseveiding". Viele sind nebulöser geschrieben. Bitte gib uns anhand eines weiteren Beispiels einen Einblick, wie du an die Texte herangehst und welche Gedanken sich dahinter verbergen.

Eins der wiederkehrenden Motive des Albums ist der Rabe – eine zentrale Figur nordischer Tradition. Er repräsentiert viele Dinge, aber mythologisch kennen wir ihn auch als Verkörperung von sowohl Geist als auch Gedächtnis. In einem altnordischen Gedicht ist das schön anhand von Odins beiden Raben beschrieben: Jeden Tag schickt er sie hinaus in die Welt und sie berichten ihm davon. Sie heißen Hugin – Geist – und Munin – Gedächtnis. Er fürchtet, dass Hugin nicht zurückkehren könnte, doch noch mehr fürchtet er, dass Munin verschwindet. Im Song "Munin" gehe ich der Überlegung nach, warum das so ist. Warum sieht Odin das Gedächtnis als elementarer an als den Geist? Es gibt keinen Geist ohne das Gedächtnis. Es ist fast eine Gedächtnisstudie, auch im Hinblick darauf, wie Gedächtnis/Erinnerung in älterer Tradition wahrgenommen wurde und warum das Sinn ergibt. Ich denke, das ist ein gutes Beispiel dafür, wie ich über meine Musik und meine Texte nachdenke. Es wäre simpel, einfach das originale Gedicht zu rezitieren. Mir ist wichtiger, zu erkunden, was es tatsächlich bedeutet und wie es sich auf die Gegenwart übertragen lässt. Warum sind diese Dinge wichtig? Die Vergangenheit zu kopieren oder seinen liebsten Runenstein abzulesen ist nicht sehr schwierig – aber Altes zu nehmen und daraus etwas Neues zu schaffen, das bei den Menschen von heute auf Anklang stößt, das ist eher eine Herausforderung. Darum geht es mir mit unserer Arbeit in Wardruna.

Man hört dich öfter sagen, es sei keine gute Idee, die Vergangenheit zu romantisieren. Wie blickst du persönlich auf die Vergangenheit?

Natürlich kann man romantisieren, aber ich finde diese Form von Eskapismus – die Romantisierung und zu denken, manches sei früher besser gewesen – nicht besonders konstruktiv. Ich glaube nicht, dass es besser war. Bloß weil irgendwann einmal jemandes Jesus, Buddha, Odin oder Freya etwas gesagt hat, heißt das nicht, dass es automatisch wahr ist oder automatisch auch heute noch gilt. Das ergibt für mich überhaupt keinen Sinn. Aber manche Dinge bleiben definitiv relevant. Deine Wurzeln sind nicht wichtig, bloß weil sie deine Wurzeln sind – da muss schon noch etwas mehr sein, dass es wert macht, sie weiterzuführen. Da gibt es vieles, dass es durchaus wert ist, erinnert zu werden und von dem man lernen kann – statt sie einfach nachzuahmen. Bei Wardruna geht es darum, neue Samen zu säen, etwas zum Wachsen zu bringen und Bestimmtes zu erinnern. Es bringt dabei mehr, nach vorn zu schauen als nach hinten. Natürlich gilt: Ein Baum ohne Wurzeln wird fallen. Sich zu erinnern, woher man kommt, ist daher schon auch wichtig. Es braucht Balance und Realismus bei alldem. Denn es gibt auch so viel in den alten Traditionen, was heute nicht mehr viel Bedeutung in sich trägt. Das mag trotzdem interessant sein, es aber zu glorifizieren, bloß weil es cool aussieht oder so… darin sehe ich keinen Sinn.

Bei eurem letzten Konzert in Berlin 2017 schrie jemand im Publikum während des Konzerts Nazi-Parolen. Was löst sowas in dir aus?

Während des Konzerts habe ich das wegen In-Ear-Monitoring nicht mitbekommen, aber ich wurde dann davon unterrichtet, ja...

Du hast den Vorfall auch nach dem Ende des Konzertes noch kommentiert.

Ja, das mache ich immer. Sowas ist dumm und passt nicht zu meiner Sichtweise der Dinge. Ich denke, es schadet meiner Kultur extrem, dass immer noch Leute versuchen, das kulturelle Erbe in einer absolut dummen Art und Weise zu politisieren, die überhaupt keinen Sinn ergibt. Hätte ich die Zwischenrufe direkt mitbekommen, hätte ich wahrscheinlich deutlich stärker darauf reagiert.

"Sich von anderen Kulturen bedroht zu fühlen, ist einfach nicht logisch"

In der öffentlichen Wahrnehmung stehen Interesse an Mythologie, die Verklärung davon, „Stolz aufs Vaterland“ und damit Nationalismus oft eng beieinander – und das oft nicht ohne Grund. Was kann deiner Meinung nach getan werden, um das zu ändern und Missbrauch solcher Art keine Plattform zu geben?

Die beste Medizin für Ignoranz ist Wissen. Und diese Art von Verklärung ist definitiv das Resultat von Ignoranz. Denn wenn man genug über die alten Weltansichten weiß, weiß man auch, dass viele dieser neuen Ausdeutungen davon überhaupt keinen Sinn ergeben. In der Gesellschaft damals spielte Ehre eine sehr große Rolle, wahrscheinlich die dominierende. Und das bedeutete auch, seine Feinde zu ehren. Das war sehr wichtig. Sich anderen Menschen oder Kulturen gegenüber respektlos zu verhalten, war nicht gern gesehen – und konnte dich tatsächlich umbringen. Das ist nur Teil davon. Und man muss verstehen, dass es sich hierbei eben um animistische Tradition handelt. Animistische Traditionen und im Grunde alle naturbasierten Kulturen sind immer ein Resultat der direkten Umgebung und der Menschen, die dort leben. Mein Glaube wird also bestimmt von meiner Umgebung, meiner Ressourcen, meiner Profession und so weiter. Für meine Nachbarn gilt das gleiche. Sich von anderen Kulturen bedroht zu fühlen, ist einfach nicht logisch. In der Begegnung mit anderen Kulturen kann man so viel von diesen alten, polytheistischen Weltanschauungen lernen. Man fühlte sich da nicht bedroht von anderen Glaubenssystemen. Das war sicher auch ein Grund für den Erfolg der Nordmänner in Europa. Sie konnten sich anpassen und akzeptierten den Glauben anderer. Wir wissen, dass Heiden und Christen in den nordischen Ländern lange Zeit friedlich nebeneinander lebten – bevor es politisch wurde. Schließlich wurde es politisch, es ging darum, Macht zu zentralisieren. Religion war dabei nur das Mittel zum Zweck, nicht der eigentliche Konflikt. Viele dieser modernen politischen Ausdeutungen haben rein gar nichts mit unserer Kultur zu tun. Dass Menschen sie darauf beziehen, ist – meiner Meinung nach – einfach ignorant und gegenstandslos.

Stolz auf und dabei aufgeklärt über seine eigene Kultur zu sein, empfinde ich als positiv, wenn man auf andere Kulturen zugeht. Ich erlebe das immer wieder. Personen, die sehr gut über die Geschichte ihrer Kultur Bescheid wissen, verstehen auch mich besser. Man wird dadurch selbstsicherer und fühlt sich dementsprechend weniger bedroht von den Traditionen anderer. Vielleicht am wichtigsten und was Leute, die Angst vor Multikulturalität, Migration und so weiter haben, auch mal bedenken sollten: Die nordische Geschichte ist durchzogen von Migration! Völker sind gewandert, Kulturen haben sich verflochten und neue Kulturen geschaffen. Die nordische Tradition, wie wir sie heute kennen, ist tatsächlich das Ergebnis der Migration verschiedener Völker, die von vielen unterschiedlichen Orten kamen und eine gemeinsame Kultur entwickelt haben. Das ist schon immer passiert und wird immer passieren. Habt daran Teil und hört auf, solche Angst davor zu haben.

Du hast in deiner Karriere bereits einige wissenschaftliche Vorträge gehalten, unter anderem an der Oxford Universität. Wie reagieren Wissenschaftler auf deinen Ansatz an nordische Musik und Poesie mit Wardruna?

Oh ja, ich mache solche Sachen sehr gerne. Und meine Erfahrung bisher zeigt, dass die Leute dort sehr offen gegenüber meinen Ideen sind und die Ernsthaftigkeit meiner Arbeit anerkennen. Ich gehe diese Dinge im Grunde genauso an wie sie. Als Basis für meine gesamte Arbeit studiere ich die Primärquellen – auch wenn mein Ansatz nicht ist, Musik aus einer spezifischen Ära zu kopieren. Aber ich versuche, so viel wie möglich darüber herauszufinden. Das gilt für die musikethnologische Perspektive ebenso wie für thematische Motive. Bevor ich in den kreativen Prozess gehe, schaue ich, was bereits bekannt ist und auch, wie sich etwas praktisch und logisch in der Performance umsetzen lässt. Die Quellen bringen dich natürlich nur bis zu einem gewissen Punkt und man kann davon ausgehend viele Hypothesen bilden. Mein Vorteil ist, dass ich nicht nur den akademischen Ansatz habe, sondern zusätzlich eben auch Musiker bin. Ich kann also viele dieser Dinge tatsächlich in die Praxis überführen, um festzustellen, was funktioniert und was nicht. Das wird von vielen geschätzt und ist vielleicht einer der Gründe, warum ich zu Konferenzen eingeladen werde.

Kürzlich wurdest du auch in ein gänzlich anderes Feld eingeladen: die Welt des Gamings. Du hast am Soundtrack zu "Assassin's Creed Valhalla" mitgewirkt. Dir ist eigentlich sehr wichtig, in deiner Musik keinerlei Kompromisse eingehen zu müssen. Wie passt das mit Auftragsarbeit wie zum Beispiel dieser zusammen?

Meine Arbeit für TV-Serien wie "Vikings" zwang mich zu weitaus mehr Kompromissen als dieses Spiel. Ubisoft und ihrem Musikteam war sehr daran gelegen, dass etwas Kompromissloses abgeliefert wurde, und wagten den Schritt in eine umkommerzielle Richtung. Meine Aufgabe war, der skaldischen Tradition eine Stimme zu geben. Natürlich gingen wir dabei aber auch teilweise in eine eher an Wardruna erinnernde, voll produzierte moderne Ausdeutung dieser Tonalitäten. Ich habe das sehr genossen. Es war ein extrem ambitioniertes Projekt. Die Prämisse von "Assassin’s Creed" ist Geschichte – aber Geschichte kombiniert mit Fiktion. Viel davon basiert auf Fakten, aber sie spielen damit. Unser Wissensvorrat zum Zeitalter der Wikinger ist voller Lücken. So ergibt sich viel Raum für freie Interpretation. Egal ob es nun um TV-Serien, Bücher oder Spiele zu einem historischen Thema geht: Immer wird auch eine kontemporäre Sichtweise auf die entsprechende Zeit mit hineinspielen. Das war hier sicherlich genauso und ist absolut natürlich.

Wie wichtig ist moderne Musiktechnologie für Wardruna?

Sie ist zentral. Natürlich stellen die Instrumente den Kern, aber die Technik und die Soundscapes, die ich nutze, sind natürlich modern. Fürs Klangbild ist das definitiv entscheidend. Ich versuche, alles organisch zu halten, auch die großen Sounds, Drones und so. Ich sample Elemente, spiele mit ihnen, den alten Instrumenten und ihren Sounds herum. Die Kombination aus altertümlich und modern ist eine wichtige Zutat bei Wardruna. Diese Balance trägt sicher auch dazu bei, dass Leute sich davon angesprochen fühlen. Die Musik erfüllt moderne Sounderwartungen.

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LAUT.DE-PORTRÄT Wardruna

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