laut.de-Kritik
Eine ganze Menge Fragezeichen.
Review von Yannik GölzIn regelmäßigen Abständen kommt die Vorhersage auf, dass das Internetzeitalter irgendwann das derzeitige Konzept von Genres vollständig erodieren wird. Und auch im Anbetracht aller Post-Rocks, Emo-Traps, PC Musics, Simpsonwaves und Bandcamp-Künstlern scheint sich niemand dieses Mojo mehr zu Herzen genommen zu haben als Soundcloud-Rapper XXXTentacion.
"?", "Fragezeichen" titelt dessen zweites Album zurecht, denn es knüpft an die zwanzigminütige Demo-Halde "17“ mit noch mehr halbfertigen Tracks an. Doch statt kohärentem Emo-Indie-Sound vermengt der Vorzeige-Provokateur hier Emo, Stripclub-Trap, Industrial, Nu Metal, Oldschool-Hip Hop und Latin Pop zu einem der verwirrendsten Projekte des Jahres.
Dabei ist es nicht einmal so, dass X seinen immensen Vorschusslorbeeren nicht gerecht werden würde. Trotz satter 18 Anspielstationen wohnt im Grunde jedem Track ein klares Alleinstellungsmerkmal, ein markanter Flow oder eine einprägsame musikalische Idee inne. Die Uptempo-Bridge auf "The Remedy For A Broken Heart" zum Beispiel donnert ziemlich beeindruckend über den melancholischen Trap-Beat, die Gesangslinien auf melodischeren Tracks wie "SAD!" und "Moonlight" haben unweigerliches Ohrwurm-Potential.
Dazu kommen abenteuerliche Ausflüge wie "Infinity (888)", auf dem X gemeinsam mit Joey Bada$$ äußerst glaubwürdig den Rucksack-Rapper mitsamt Battleraps und Samplebeat herauslässt. Oder die eigenwillige Soundcloud-Geschrei-Nummer "Pain = Best Friend", die dank Blink 182-Drummer Travis Barker eine etwas organischere Note verpasst bekommt. Oder der Gipfel der Absurdität: Ein Latin-Pop-Song auf Grabbelkisten-Ozuna-Despacito-Beat mit dem absolut unglaublichen Namen "I Don't Even Speak Spanish lol". Kein Scherz.
Dabei scheitert keines dieser Projekte für sich betrachtet, lediglich wirkt die Aneinanderreihung oftmals überaus fragwürdig. Natürlich könnte man den Kontrast von dicht aufeinanderfolgenden emotionalen Extremen und Musikrichtungen als Stilmittel bezeichnen. Aber im Rahmen von zwei Minuten zwischen tiefster Depression und Beziehungsdrama und einem Song zu schwanken, in dem man mit dem zwölfjährigen Soundcloud-Rapper Matt Ox über den eigenen Erfolg prahlt, bevor wieder psychotisch geschrien wird, da fehlt mehr als ein Bindeglied.
Dazu kommt auch hier einmal mehr die Aversion von XXXTentacion, Songs überhaupt über die erste Idee hinaus zu entwickeln. Gerade einmal zwei Tracks überschreiten die Dreiminuten-Marke (um je sechs und zwölf Sekunden), oftmals wird einfach nur ein Refrain zweimal wiederholt, hier und da fehlen die Parts sogar komplett.
Das ist äußerst schade, denn Songs wie "Numb" oder "The Remedy Of A Broken Heart" stellen klanglich ein paar der stärksten Momente in der gesamten Diskographie des Floridaners dar. Hätte man sich einmal Gedanken gemacht, sie über zweiminütige Demos zu entwickeln, wäre das Crossover-Potential immens und auch der Genuss des Tapes ein ganz anderer. Denn diese Ambition hätte dann erlaubt, die handvoll Filler-Momente zu streichen (zum Beispiel "Smash" mit PnB Rock) und tatsächlich so etwas wie Kohärenz auf den Tisch zu legen.
So endet "?" mit mehr Irritation als Eindruck, obwohl einige Momente mit einer nicht zu verachtenden Strahlkraft aufwarten. Langsam gehen XXXTentacion wohl auch die Entschuldigungen aus, sein Potential immer noch derartig halbgar auszuschöpfen. Beim zweiten offiziellen Album mit Major-Backing und professioneller Produzentenflotte dürfte einem kompletten Erkunden der eigenen musikalischen Ideen nichts mehr im Wege stehen. Wenn man den verdammten Drummer von Blink 182 ins Studio bekommt, dann kann man sich doch auch mal erbarmen, einen ganzen Song zu schreiben.
Gerade was seine verwirrenden inhaltlichen Ansätze zwischen Herold der Positivität und psychotischem Gewalttäter angeht, fehlt die Arbeit, um ein konkretes und nachvollziehbares Bild zu zeichnen. Das Fragezeichen gilt dementsprechend vor allem der Frage, wann und ob dieser X nach all den erbaulichen Worten seiner Zeitgenossen (von Kendrick über Cole bis hin zu Joey) wirklich die Geduld aufbringen wird, die Musik zu machen, zu der er eigentlich im Stande ist. So bleibt trotz vieler starker Momente ein durchwachsenes Gesamtbild.
4 Kommentare mit einer Antwort
Also man muss sagen: JA, es nervt ungemein, dass XXXTentacion nach wie vor nicht mehr macht, als Skizzen zu recorden. Und der Typ hat rein stilistisch und innovationsmäßig ein ungemeines Potential.
Erinnert mich manchmal sogar ein wenig an Lil Peep, warum auch immer.
Allerdings stellt sich mir beim Lesen der Review eine Frage: Hast du dir eigentlich mal in Ruhe das Intro angehört?
"SAD" is halt schon n ziemlicher Ohrwurm..
Juckt mich alles nicht, das mit der Kohärenz. Erwarte ich schließlich eh nicht mehr bei ihm. Da sind ein paar heftige Tracks drauf, "The Remedy Of A Broken Heart (Why Am I So In Love)" z.B., den Rest (circa 30% des Albums) werd ich getrost skippen oder direkt von der Platte werfen.
Der Junge hat Potential, leider ist der Output bislang grottig. Ich hoff ja auf den Lerneffekt von trial und error. Maybe hell figure things out.
gutes Album