laut.de-Kritik

Postkarten vom Kirchentag.

Review von

Immer schön vorurteilsfrei an ein Thema herangehen. Das fällt manchmal leichter, manchmal schwerer. Das hehre Ziel sollte aber doch immer lauten: bloß nichts vorschnell abhaken. Jedem jederzeit alles zutrauen. Selbst Xavier Naidoo könnte, wiedervereint mit seinem ollen Mentor Moses Pelham, im Prinzip eine hochgradig taugliche Platte machen. Der eine, erzählt man sich jedenfalls, kann singen. Der andere, heißt es, hat auch schon ordentliches Zeug aufgenommen ... also!

Der Auftakt von "Nicht Von Dieser Welt 2" lässt tatsächlich Bestes erwarten. Aus spacigem Elektrogeflirre, wattigen Streichern, locker angeschlagenen Saiten und dickem Bass stricken die Herren Pelham und Haas ein stimmungsvolles Intro, das zugleich heimelig vertraut, irgendwie frisch und vor allem fett produziert klingt. So dürfte das weitergehen.

Gut möglich allerdings, dass einem "Nicht Von Dieser Welt - Die Rückkehr" vor allem der weitgehenden Abwesenheit Xavier Naidoos wegen so positiv im Gedächtnis bleibt. Außer der, wie stets, Pathos-triefenden Zeile "Dies ist die Rückkehr" jault Mannheims prominentester Sohn einem hier nämlich nichts ins Ohr. Leider bleibt es nicht dabei. Natürlich nicht.

Ich warne euch: Gefühlt sehr, sehr, sehr viel später, nachdem Epilog, Zugabe, Bonus-Tracks und dann auch noch das beiliegende Unplugged-Album "Allein Mit Flügel" verklungen sind, werdet ihr euch vorkommen, als habe man euch nach Ladenschluss in der Schreibwarenhandlung um die Ecke eingesperrt und gezwungen, eine ganze Nacht lang Postkartenfloskeln zu lesen. Ihr kennt die Sorte: Foto von gestapelten Kieseln am Strand oder einem alten Fahrrad vor einer pittoresken Natursteinmauer, angeschnörkelte Schrift.

Drauf steht etwa: "Glaub' mir, vor uns liegt die schönste Zeit, und das zu wissen ist ein Königreich." Oder: "Ich bin frei, frei wie ein Kind, getragen von deiner Liebe wie ein Segel vom Wind." Oder: "Denn im Prinzip ist das Prinzip nur, dass Liebe Liebe liebt und Liebe siegt." Oder: "Du trägst mich, ich trage dich, es geht von Ewigkeit zu Ewigkeit und von Angesicht zu Angesicht. Ich liebe dich."

Wieso kenn' ich so viele davon? Weil ich sie in den vergangenen Stunden alle gehört habe. Al-le! Nachdenkliche Sprüche, ohne Bilder zwar, dafür mit reichlich Kirchentagsflavour, abgenutzten Metaphern ("Kopf"), den drei hängengebliebenen lateinischen Bauernregeln ("Latein"), und gerade wenn du denkst, es gehe nun wirklich nicht mehr abgegriffener, stimmt Xavier Naidoo "Amazing Grace" an, ganz ohne Begleitung, aber mit einer Sendboten-Attitüde, als stehe er bei einer Sportveranstaltung im Stadion und habe die Nationalhymne zu singen. Brüh' im Lichte.

Die penetrante Christlichkeit, die Naidoo wie eine Monstranz vor sich herschleppt, macht es nicht leichter, hat mir aber auf der Suche nach einem inhaltlichen Gegengewicht immerhin Behemoths "Satanist" nahe gebracht. "Blow your trumpets, Gabriel." Danke dafür, niemand kann nun noch behaupten, Naidoo und Pelham eröffneten keine neuen musikalischen Horizonte. Trotzdem irgendwie enttäuschend, wenn jemand, der sich seit Dekaden als Bibelbruder Nummer eins in Szene setzt, die ausgelutschtesten aller ausgelutschten Stellen verwurstet, ausgerechnet die Offenbarung und den 23. Psalm. Als habe das Buch der Bücher sonst nichts zu bieten.

Aber immer schön massentauglich bleiben. Deswegen lässt sich Naidoo - oder Pelham, aus dessen Feder der Großteil der Texte stammt - auch von so exotischen Vordenkern wie Goethe, Nietzsche, Martin Luther King und Nelson Mandela inspirieren. Deren Zitate purzeln wie die Poesiealbums-Sprüche durch das schwarz-weiß-güldene Booklet. 'Ne Nummer kleiner habt ihrs nicht?

Nö. Wenn zwei ans Werk gehen, die sich für die Allergrößten halten, bleibt offenbar keinerlei Raum für kritische Selbsthinterfragung. Anderenfalls hätte sich Pelham vielleicht überlegt, ob man 2016 wirklich noch 90er-Rödelheim-Flows auspacken kann, als habe sich seit Fünf Sterne Deluxe nichts getan. Man hätte auch nicht jedes zweite der eigentlich größtenteils gelungenen Instrumentals mit Kinderchören oder Hallelujah-Gesinge (oder beidem) zukleistern müssen.

Da sich die deutschsprachige Welt kollektiv entschlossen hat, Naidoos Gesang als grandios und wahnsinnig bewegend zu feiern, muss wohl irgendwas dran sein. Mir erschien seine überkandidelte Art, seine übertrieben betonte Gefühligkeit in Kombination mit der völligen Abwesenheit von irgendeinem Nachklang eigentlich immer ziemlich seelenlos und steril.

Egal. Selbst wenn ich Mr. Tauschkonzert für den größten Sänger unter der Sonne hielte: Was er einem da von ewiger Liebe und Gottes Allmacht (oder auch von Tiertransporten und Massenschlachtungen oder häuslicher Gewalt) vorschwallt, ließe sich trotzdem kaum ertragen. Was sind das bloß für Leute, die sich so etwas freiwillig zu Hause anhören?

"In diesen Armen werd' ich dich bestimmt schon sehr, sehr bald haben ... für mich ist es spielend leicht, wenn ich nur mein Ziel erreich'." "Egal, wie es ist, ich brauch' dich doch." "Wenn ich dich nicht hab', hör' ich mein Herz rebellieren ... Ich find' keinen Frieden ohne dich." Irgendwie kommt mir das alles irgendwie ... creepy vor, wie die realitätsferne Sichtweise eines besessenen Stalkers: Du willst mich nicht? Mir egal, ich hol' dich trotzdem. Brrr ...

Menschen, die denken, die Definitionsmacht über Richtig und Falsch zu besitzen, jagen mir grundsätzlich schon einmal Angst ein. Noch gruseliger, wenn solche dann auch noch eine grölende, applaudierende Meute im Rücken haben. Wie in "Dem Himmel Noch Näher". "Glaub' mir, du musst mir glauben!" Mit Zeitgenossen, die da nicht reflexartig "Einen Scheißdreck muss ich!" dagegen halten, will ich wahrhaftig nichts zu tun haben.

An Xavier Naidoos Glaubwürdigkeit hege ich ohnehin so meine Zweifel. Ständig singt er von "Positivität" und der alles überstrahlenden Liebe - und dann zieht er auf sämtlichen Fotos im Booklet und auf dem Cover einen Flunsch, den Kanye nicht missmutiger hinbekäme? Da stimmt doch was nicht. Dis is a positive movement? Ja, so schaust du aus!

Einige Beats verlieren sich in betulichen Gitarre-Cello-Kombinationen. "Frei" klingt wie eine Akustikversion von Bon Jovis "Wanted Dead Or Alive", über das einmal hastig die WDR-Pausenmelodie drüberrammeln durfte. Wie passend die Produktionen aber über weite Strecken ausfallen, führt die Bonus-CD der Deluxe-Edition vor Ohren. Dort fehlen sie nämlich.

Statt dessen stimmt Xavier Naidoo neun der Stücke noch einmal an, einzig und allein begleitet von Neil Palmer am Flügel. In dieser reduzierten Kulisse glaubt Naidoo offensichtlich, er müsse alles mit noch ausgeprägterer Vokalknödelei aufwiegen. "Uuuh-uhuh-uuuuh-uuuh." Genau: Uh, und das ist jetzt bestimmt kein Vorurteil mehr.

Trackliste

Nicht Von Dieser Welt 2

  1. 1. Nicht Von Dieser Welt - Die Rückkehr
  2. 2. Renaissance Der Liebe
  3. 3. In Meinen Armen
  4. 4. Der Fels
  5. 5. Das Lass' Ich Nicht Zu
  6. 6. Dem Himmel Noch Näher
  7. 7. Kopf feat. Moses Pelham
  8. 8. Frei
  9. 9. Wiedersehen
  10. 10. Ich Will Leben
  11. 11. Das Prinzip feat. Moses Pelham
  12. 12. Latein
  13. 13. Nicht Von Dieser Welt - Epilog
  14. 14. Amazing Grace
  15. 15. Mit Dir
  16. 16. Zeichen (Dann Los)
  17. 17. Kein Land
  18. 18. Noch Immer Mehr Als Gold Wert

Allein Mit Flügel

  1. 1. Renaissance Der Liebe
  2. 2. Das Lass' Ich Nicht Zu
  3. 3. Der Fels
  4. 4. Ich Will Leben
  5. 5. Kopf feat. Moses Pelham
  6. 6. Frei
  7. 7. Das Prinzip
  8. 8. Latein
  9. 9. Wiedersehen

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38 Kommentare mit 67 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 7 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 7 Jahren

    Wau, also ich hab mir das Album, nebst Botschaft über Kopfhörer gerade zu gemüte geführt und bin von Sound, Texten, Stimme und Arrangement überwältigt.
    In der heutigen Zeit gibt es für mich eigentlich nichts wichtigeres, als über Die Liebe nachzusinnen, ihr zu folgen und sie auch zu praktizieren.
    Mir fehlen eher Texte in deutscher Sprache, die in die Tiefe gehen und nicht immer nur von Party, Schmerz und der weltlichen Liebe, sondern von der Liebe zu dem Einen, dem großen Ganzen, dem Sein, dem göttlichen, dem Leben, dem ohne Namen, ...
    handen.

  • Vor 6 Jahren

    Ein gutes Album vom besten Sänger Deutschlands. Stimme wie immer brilliant, die Texte allerdings oft gewöhnungsbedürftig. Die Produktion ist top und die Melodien schön. 4/5.
    Beste Tracks:
    Der Fels
    Latein
    Noch immer mehr als Gold wert