laut.de-Kritik
Dieses Doppelalbum wird in die deutsche Musikgeschichte eingehen.
Review von Stefan JohannesbergSchon mit seiner Version des Udo Jürgens Klassikers "Ich glaube" machte Naidoo bei mir viel verlorenen Boden wieder gut, und nach dem gewonnenen Rechtsstreit mit Herrn Pelham waren seiner eigenen Kreativität keine Grenzen mehr gesetzt. Das unabhängige Projekt der Söhne Mannheims, den bedürftigen Menschen ihrer Stadt zu helfen, indem man eigene wirtschaftliche Strukturen aufbaut, fand dann auch wie das dazugehörige
Debutalbum meine uneingeschränkte Zustimmung.
Mit starken Features bei Curse, Jan Delay und Mittermeier sammelte er weitere Pluspunkte, vom "Adriano"-Hammerhook der Brothers Keepers ganz zu schweigen. Auch in den Interviews überzeugte er mit einer erfrischenden Vielschichtigkeit, was in der heutigen Zeit stromlinienförmiger Stars leider keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Egal, ob er nun im Stern hascht oder bei Kerner absolut aufrichtig über die Beziehung zu seinem kürzlich verstorbenen Vater erzählt und dabei Schauspieler Armin Rohde sowie Tierfreund Heinz Sielmann zu echten Tränen rührt.
Derweil nimmt auch die Vorfreude der Fans auf das zweite Solowerk des Mannheimer Soulknaben immer größere Formen an. Kräftig unterstützt durch die famose erste Single "Wo willst du hin" beginnt eine mediale Werbekampagne, die ihresgleichen sucht. Kein Fernsehkanal, kein Radiosender, kein Magazin kommt am Aushängeschild deutschsprachiger Soulmusik mehr vorbei. Selbst auf dem legendären roten Sofa des NDR nimmt er Platz, um seine Botschaften zu verkünden. So erreicht er auch "unverdächtige" Hörer wie meine liebe Mutter, die mich seitdem ständig wegen der Platte nervt.
Vielleicht meinen jetzt manche, dass solche Ansichten des Autors nicht in eine Plattenkritik gehören, doch mit dem Doppelalbum "Zwischenspiel/Alles für den Herrn" walzt Xavier Naidoo alles Vergleichbare nieder. Alle Schmalspur-Soulsänger können genauso einpacken wie ihre deutschrockenden Kollegen. Xavier setzt mit den 30 Songs ganz neue Maßstäbe. Die Scheibe wird in die deutsche Musikgeschichte eingehen. Wort drauf. Also verdient sie auch eine umfassende Review.
Oft können Künstler den berühmten roten Faden nicht über die gesamte Spielzeit einer Doppel-CD halten, wenn sie ihn überhaupt finden sollten. Naidoo umgeht dieses Problem geschickt, in dem er die Platte in zwei fast autarke Konzeptalbumhälften aufteilt. Das "Zwischenspiel" behandelt neben manchen sozialkritischen Ansätzen zumeist die typischen Beziehungsthemen des Souls, während auf der zweiten Seite textlich "Alles für den Herrn" gegeben wird. So kommt in den 2½ Stunden auch keine Langeweile auf, denn man wird von Xavier immer wieder aufs Neue gefordert. Ein Abschalten ist nicht drin.
Die beiden Teile unterscheiden sich aber nicht nur im lyrischen Bereich, sondern setzen auch auf unterschiedene Soundmerkmale. Xaviers eigenständige Mixtur aus Hip Hop, Deutsch Rock, Soul, Reggae und Pop bildet zwar das Fundament, doch beim "Zwischenspiel" schlägt er merklich sanftere Töne an. Bei der "CD für den Herrn" geht es dagegen mitunter ordentlich zur Sache. Und das ist auch ein Grund, warum mir der erste Teil wesentlich besser gefällt. Songs wie die "Wo willst du hin" oder "Abschied nehmen" sind einfach in jeder Hinsicht zeitlos gut. Zärtlich schwingt die Schneebesen-Snare "Auf Herz und Nieren", und bei "That's The Way Love Is" sowie bei "Kein Königreich" groovt es locker aus der Hüfte.
Doch sind es die Balladen, in denen Xavier zur Höchstform aufläuft. Schöner und tiefer als auf "Brief" und "Kleines Lied (Kinderlied)" geht es nicht. Gänsehautfeeling pur. Auch die obligatorische Coverversion fischt in den ruhigen Gewässern. Nach "Flugzeuge im Bauch" vom Debut gibt es jetzt wiederum einen Klassiker in der Naidoo-Interpretation. Das herzergreifende Kate Bush/Peter Gabriel-Duett "Don't Give Up" soll es dieses Mal sein. Und ich weiß nicht, wie es der gute Mannheimer schafft, exakt wie Mister Gabriel zu klingen. Doch genau das tut er. Klasse, Baseballcap ziehen inklusive.
Ein weiterer Grund, warum ich das "Zwischenspiel" dem "Alles für den Herrn"-Teil vorziehe, ist, dass ich mich ein wenig schwer tue mit Xaviers offensivem, oft pathetischen Glaubensbekenntnis. Das liegt aber eher an meiner zugegebenermaßen etwas gottlosen Weltanschauung als an Xaviers Texten. Denn oft kann ich seinen Gedankengängen nicht nur folgen, sondern auch zustimmen. Ob nun der christlich-soziale Kampf gegen das Babylon der Stoiberstammtische auf "Mägde und Knechte", die Armageddon-Vision bei "Der Herr knickt alle Bäume" oder das resignierende "Ich lass sie sterben", sie alle treffen meinen Gefühlsnerv. Aber 15 derartige Tracks, seien sie musikalisch auch so ansprechend wie das tanzbare "Bevor du gehst", sind für mich einfach zu viel des Guten und verhindern die Vergabe der Höchstpunktzahl.
So bleibt zum Schluss noch die Erkenntnis: Xavier Naidoo ist für alle da und schleicht sich so langsam aber sicher in sämtliche Haushalte ein. Die Reggae und - Hip Hop-Heads weiß er seit Brothers Keepers auf seiner Seite. Die Deutsch-Rocker haben ihn bereits seit der E-Gitarre bei "Geh davon aus" und dem erwähnten Grönemeyer-Cover ins Herz geschlossen. Soulmusik aus Deutschland ist ohne ihn gar nicht mehr denkbar und selbst in den Golf GTIs dieser Nation freuen sich die Friseusenschülerinnen über seine Liebeslieder. Zu allem Überfluss betreibt er sogar aktiven Literaturunterricht für die nächste Pisastudie, denn auf dem neuen Album vertont er die Gedichte "Die Dinge singen hör ich so gern" und "Lied (Du nur, Du)" des impressionistischen Sprachpoeten Rainer Maria Rilke.
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