laut.de-Kritik
Ein lebhaftes und forderndes Hörerlebnis.
Review von Toni HennigVor zwei Jahren veröffentlichte Nicolas Jaar unter dem Moniker Against All Logic, kurz A.A.L., die LP "2012 - 2017". Erst kürzlich ließ er einen Mix und die EP "Illusions Of Shameless Abundance" folgen, die schon mit deutlichen Veränderungen im Sound aufwartete. Sie enthielt unter anderem einen gemeinsamen Track mit FKA Twigs, deren letztjähriges Werk "Magdalene" er mitproduzierte. Nun dehnt der chilenisch-amerikanische Musiker den rohen, ja fast schon militanten Grundton der EP auf Albumlänge aus.
Schon "Fantasy" verdeutlicht dies mit aller Kompromisslosigkeit, wenn exotische, an Arca erinnernde Klänge und verzerrte Distortion-Beats die Platte einleiten. Dem schließt sich ein markantes Sample von "Baby Boy" an, der Nummer von Beyoncé und Sean Paul (2003). Im Zusammenspiel mit der straighten Rhythmik und den hellen Synthieflächen entsteht etwas zugleich Zwingendes wie Widerborstiges.
Eine tendenziell tanzbare Sperrigkeit zieht sich ebenso durch das Werk. Abgesehen davon sorgen schiebende Bässe und ein warmes 70s-Soul-Sample von Luther Ingrams "(If Loving You Is Wrong) I Don't Want to Be Right" im folgenden "If Loving You Is Wrong" für etwas Entspannung, ein ätherisches Chorsample und nächtlich anmutende Synthieflächen in "Faith" dagegen für ein wenig Ruhe im ansonsten recht dreckigen, lebhaften Klangbild.
Im Großen und Ganzen schreibt sich Jaar rhythmische Ordnung zwar auf die Fahnen. Die bietet allerdings auch deutlich mehr Spielraum für verspielte Kontraste und Störgeräusche als seine fast schon klassische Vorgehensweise auf dem Vorgänger. Der lebte einerseits vom kreativen Sampling, wirkte jedoch wie eine Ansammlung von Einzeltracks, die klanglich oftmals ins all zu Formelhafte und Generische abdrifteten.
Diese Gefahr besteht hier glücklicherweise nicht, schöpft Jaar doch aus einer Vielfalt an größtenteils ziemlich modernen Einflüssen, ohne dass man das Gefühl hätte, er verliere die Homogenität, die ein gutes Elektronik-Album ausmacht, aus den Augen. In "With An Addict" flankieren immer wieder veträumte, an Aphex Twin erinnernde Synthiemelodien hektische Footwork-Percussions. Zwischendrin ertönt hier und da ein lässiges Hip Hop-Sample. Mit "If You Can't Do It Good, Do It Hard" geht es anschließend verzerrt in Richtung Industrial und EBM. Gegen Mitte kommt unruhiger Noise dazu, nur damit wenig später Lydia Lunch, die schon der EP ihre Stimme lieh, die Nummer mit kämpferischen Spoken Words nach vorne peitscht.
"Alarm" macht schließlich mit übersteuerten Knarz-Sounds und metallischen Effekten seinem Namen alle Ehre, bildet aber nicht mehr als ein kurzes Vorspiel für "Deeeeeeefers". Da zirpen die Maschinen, da knallen die Hi-Hats und da heulen die Distortion-Sirenen zu futuristischem Electro, als gäbe es kein Morgen mehr. Gut, dass der 30-jährige New Yorker im weiteren Verlauf die Lautstärke ein wenig nach unten regelt, denn ansonsten stehe man kurz vor der kompletten Reizüberflutung.
Dafür hört man mit "Penny" ein technoides Stück, bei dem man sich sofort ins Auto setzen und durch die nächtliche Großstadt düsen möchte, wenn knarzige Beats, die das mögliche Tempolimit von 130 auf deutschen Autobahnen klar überschreiten würden, von Kanal zu Kanal springende Synthie-Melodien im Stile früher Martyn-Tracks und fernöstliche Effekte, die an die Ambient-Nummern auf dem David Bowie-Album "Heroes" gemahnen, ertönen. Zum Schluss besinnt sich Jaar auf die Musik, die er Anfang der 10er-Jahre unter seinem eigenen Namen produzierte. Die zaghaften, gebrochenen Tunes von "You (Forever)" hätte man genauso gut auf seinem Debüt "Space Is Only Noise" finden können.
Am Ende bleibt ein ebenso geradlinig wie auch forderndes Hörerlebnis, das die Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft elektronischer Musik schlägt. Bezüglich des überaus ideenreichen Umgangs mit unterschiedlichsten Samples und Einflüssen lässt Jaar die Konkurrenz derzeit weit hinter sich.
3 Kommentare mit einer Antwort
Nachdem du ihn beim Vorgänger ja noch "etwas überschätzt" fandest, Toni: Meinst du ich werde mit diesem hier als großer Fan der beiden NJ-Alben eher wieder glücklich? 2012 - 2017 war mir bei meinen, zugegeben arg oberflächlichen, Reinlauschern ein bisschen zu hintergrundmäßig.
Denke. Das hat deutlich mehr Punch. Hat mich schon sehr überrascht. Typische Jaar-Tunes lassen sich auch finden. Gerade in den ruhigen Momenten wie "Faith" oder dem letzten Stück.
Dieser Kommentar wurde vor 4 Jahren durch den Autor entfernt.
Puh, das ist ein Album.
Nichts für Harmoniebedürftige und garantiert gut genug, um es nicht nur nebenbei zu hören. Keine leichte Kost, dafür aber gespickt von dem ein oder anderen "oha!"-Moment. Manche Samples sind so deep, dass es endlich mal wieder Sinn ergeben hat, beim Kauf der Lautsprecher auf maximalen Tiefgang geachtet zu haben. Da bekommt man richtig Lust, in den nächsten Hifi-Laden zu gehen und das Equipment mal wieder Probe zu hören.