laut.de-Kritik
Wenn Death Metal, Doom und Prog-Rock fusionieren.
Review von Stefan JohannesbergEine orientalische Melodie schleicht sich heimlich an der heroischen Lead-Gitarre vorbei. Klare, hymnenhafte Refrains duellieren sich mit tiefen Growls direkt aus der finnischen Unterwelt. Bass und Drums finden einen Funk-Groove, bis sie mal bombastische, mal tonnenschwere Doom-Parts auf den Boden des Metal zurückholen. Allein der Opener "Into Hiding" rollt in diesen wilden Minuten das gesamte Death Metal-Genre von oben auf und wieder zurück. Die Fans der extremen Gitarrensounds fragen sich 1994: Ist "Tales From The Thousand Lakes" noch Death Metal oder kann das weg?
Eine Frage, die in jenen Tagen auch stilprägende Bands wie Paradise Lost, Carcass (vom Grind zum Melodic Death Metal auf "Heartworks"), Entombed (vom bösen Stockholm-Sound zum Hardcore auf "Wolverine Blues") oder die gesamte Göteburg-Szene um At The Gates genervt hat.
Vor allem die Entwicklung von Paradise Lost dient als wunderbare Referenz für Amorphis. Die Briten waren damals die ersten, die sich bis 1994 Album für Album vom brutalen Death-Doom des Debüts über melodischeren Gothic-Doom weiter zu gefällig-groovendem Gothic Metal entwickelten – und überall Meilensteine ablieferten.
Mit einigen Jahren Verzug starten die Finnen um Gitarrist und Sänger Tomi Koivusaari eine ähnliche Laufbahn. Amorphis' Debüt "The Karelian Isthmus" haut 1992 nicht nur Musikjournalisten-Legende Matthias Herr aus der Kutte: "Mit 'The Karelian Isthmus' ist Amorphis eine perfekte Death-Doom-Oper gelungen, bei der keine der beiden Hauptströmungen zu kurz kommt. Ein Schmuckstück und Meisterwerk zugleich. Empfehlenswert", schwärmt Herr vollkommen zu Recht in seinem vierten Heavy Metal Lexikon Vol. 4. Die Parallelen zu Paradise Lost stechen ihm ebenfalls ins Auge, auch wenn leider ein Kommentar zu Amorphis' zweiten Streich fehlt. Ältere Semester können sich vielleicht noch erinnern, wie gut und treffend Herrs Empfehlungen lange vor den Zeiten des Internets bei damals unbekannten oder im Mainstream-Magazines unbeachteten Metal-Bands waren (Beispiele für den geneigten Fan: Psychotic Waltz, Omen, Dream Theatre zu Debüt-Zeiten, Lethal etc.).
Bei "Tales From The Thousand Lakes" im Sommer 1994 jedoch reiht sich auch das Rock Hard in die Jubelarmee von Amorphis ein: "Auf 'Tales From The Thousand Lakes' fusionieren Death Metal und Gothic mit der Experimentierfreudigkeit der Komponisten ... Alles in allem ein grandioses, frisches Werk, das mir euphorische zehn Zähler wert ist - selbst auf die Gefahr hin, auf kopfschüttelndes Unverständnis zu stoßen." Zehn Punkte sind die fünf von heute. Höchstwertung.
Amorphis gelingt mit diesem Album das Kunststück, gleichzeitig einen Death Metal-Klassiker abzuliefern, einen Eckpfeiler des Melodic Death Metal zu bauen und das gesamte Heavy Metal-Genre nebenbei auf die nächste Stufe zu heben. Wenn Amorphis - direkt nach dem besagten "Into Hiding"-Opener – den Hörer in den ersten zwei Minuten von "The Castaway" mit Flöten und Hammond-Orgeln in den Prog Rock der 70er entführen, nur um dann um so heftiger mit Death Bombast und Growls wie ein Gewitter über ihn hinein zu brechen, ejakuliert jeder Headbanger in hektischer Ekstase. Vorschnell. Jeder Track birgt zu jeder Sekunde eine Überraschung, einen möglichen Rhythmus- oder Melodie-Wechsel oder beides und "The Castaway" setzt sich mit epischen Gitarrenharmonien im Refrain, den bekannten orientalischen Harmonien und fast Wal-artigem Gesang eine weitere Krone auf.
Im Interview mit Metalcrypt.com stellt Gitarrist Tomi Koivusaari klar, dass der Sound den Einflüssen, Ansprüchen und Vorlieben der Band entspricht: "Wir wollten einfach einzigartige Musik erschaffen. Zudem hatten sich unser Geschmack im Vergleich zu früher verändert. Wir hörten wesentlich mehr 70er Progressive and Psychedelic Rock. Zum Beispiel Bands wie Pink Floyd, King Crimson, Camel, The Doors, etc. Auch eine finnische Gruppe namens Kingston Wall war sehr wichtig für uns."
Die größte Leistung indes ist es jedoch, dass die für Progressive-Verhältnisse kurzen Songs niemals überladen, zerfasert oder gewollt klingen. Wie echte Wikinger, die wie selbstverständlich Handel in der ganzen bekannten Welt trieben, adaptieren auch Amorphis unzählige Sounds, ohne jedoch ihre Roots zumindest auf "Thousand Lakes" zu verlassen. Die Midtempo-Moshparts und die Death-Vocals dominieren trotz aller Einflüsse und Breaks – wie die "Jump, Jump"-Beats auf "First Doom" oder das technoide Synthie-Gewitter in "Magic And Mayhem".
Lyrisch greifen Amorphis wie schon beim Debüt die finnischen Gedichte und Geschichte aus der Kalavela auf, deren Mystik neben der Musik auch vom Cover kongenial aufgegriffen und interpretiert wird. Mittel- und Höhepunkt der im September 1993 in Stockholm aufgenommenen Schreibe ist die tödliche Zweier-Kombination von "Black Winter Day" und "Drowned Maid". Der Rhythmus des "schwarzen Wintertags" schaukelt schwer wie ein Schiff im vereisten Hafen und ist insgesamt mit dem Wechselspiel zwischen klarem Gesang von Ville Tuomi und Growls für die Inkarnation des Melodic Death Metal schlechthin. Das "ertrunkene Mädchen" schlägt danach als Nackenbrecher mit Mosh-Parts und süchtig machender Leadgitarre um so heftiger zu. Der straighteste und härteste Track des Albums und ein ewiger Live-Klassiker.
Apropos live: Ende 2014, 20 Jahre nach Release, spielen die Finnen auf mehreren Konzerten das komplette Werk vor begeisterten Fans durch. Warum auch nicht? Immerhin hat sich "Tales from the Thousand Lakes" weltweit weit mehr als 250.000 mal verkauft und gilt bis heute als wichtigstes Amorphis-Album. In Finnland gründen sich vor allem dank dieses Meilensteins ganze Heerscharen hungriger Heavy-Bands wie Ensiferum oder Noumena. Auch Insomnium, im 2000er Jahrzehnt die beste Melodic Death Metal-Band überhaupt, atmete die Amorphis-Luft tief ein. So schreibt Erik Thomas in der Review zum Album "Since the Day It All Came Down" 2004 auf Teethofthedivine.com (http://www.teethofthedivine.com/reviews/insomnium-since-the-day-it-all-came-down/): "Insomnium sind im Wesentlichen, was Amorphis heute sein sollte." Und ergänzt zum Schluss: "An 'Since The Day It All Came Down" klebt förmlich das Attribut 'classic' - genauso wie beim blutsverwandten Vorgänger 'Tales From The Thousand Lakes' viele Jahre zuvor. Einfach unglaublich."
Thomas' Meinung steht stellvertretend für viele enttäuschte Amorphis-Anhänger der ersten Stunde. Wie ihre Vorreiter Paradise Lost entwickeln sich auch die Finnen Album für Album konsequent und ohne Rücksicht auf musikalische Grenzen weiter. Auf dem 96er Werk "Elegy" sind die Growls bereits klarer, die Chöre bombastischer und der Sound wesentlich rockiger. Mit nachfolgenden Alben wie "Tuonela", "Am Universum" und "Far From The Sun" verlieren sie dann auch die letzten Death Metal-Puristen, gewinnen aber auch unzählige neue Fans hinzu.
Im oben erwähnten Interview spricht Tomi Koivusaari auch über das Selbstverständnis der Truppe und findet für die Entwicklung die entscheidende Erklärung: "Wir hatten immer das Gefühl, dass Amorphis in der Szene so etwas wie schräge Vögel sind. Wir waren ja nie aggressiv, satanisch oder solce normalen Dinge. Es war für uns viel logischer, unseren musikalischen Weg weiter zu gehen, als Blut zu spucken oder ähnliches. Daran ist ja nichts Verwerfliches, aber unsere Sache ist es eben nicht." Zum Glück, denn ohne diese Einstellung wäre auch "Tales From The Thousands Lakes" niemals denkbar gewesen. Und, um zur Ausgangsfrage zurück zu kehren – fuck you, es ist Death Metal, es ist Prog Rock, es ist heavy, es ist melodisch und es bleibt hier. Für immer.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare mit 5 Antworten
Aufjedenfall das beste Album von Amorphis. Auch heute noch gut, was man von der Band leider nicht behaupten kann.
ich kenne diese Band nicht
na dann: worauf wartest du???
damals als junger bursch blind vom mühsam ersparten taschengeld gekauft, in erwartung, hier die nächste abrissbirne typisch skandinavischer art vorzufinden.
kann man sich ja vorstellen, wie gross meine begeisterung war,als ich das teil dann zum ersten mal hörte ...
hätt ichs nur im wom probe gehört und nicht aufs uselige rockhard vertraut oO
Zwar keine Abrissbirne, aber es hätte wesentlich schlimmer kommen können
joa, schon.aber als seinerzeit 16 jähriger death metal aficionado hast da natürlich deine ganz eigene sicht der dinge ^^
Aber ist dann doch ein schönes Gefühl, wenn du 10 Jahre später merkst, dass du da nen Klasse Album im Regal stehen hast
gestern nomma auf yt bissi meine erinnerung aufgefrischt.
ist im grossen und ganzen eigentlich ok,zum klassiker reichts bei mir aber auch nach 20 jahren nicht.
dafür ist es mir einfach schon zu melodisch und nicht dreckig genug.
kann halt generell wenig mit melodischen death metal anfangen.
dafür haben mich merkwürdigerweise die zahlreichen progelemente nicht mehr so sehr gestört, welche mich früher dazu veranlasst haben,dass album nach ein paar hörgängen im regal verrotten zu lassen.
entweder altersmilde, oder ich hab mich dbzgl. doch tatsächlich weiterentwickelt oO
Ihr habt doch alle keine Ahnung ... 5 Punkte.
definitiv ein Meilenstein! Persönlich habe ich zum Nachfolger "Elegy" mehr Zugang gefunden und rauf und runter gehört. Aber das Prädikat "Meilenstein" geht zurecht an "Tales...".
Ist eigentlich niemanden aufgefallen, daß der Sänger am Anfang von "Black Winter Day " laut "lol" grunzt?