laut.de-Kritik
Die menschliche Spinne auf ihrer Heldenreise zu sich selbst.
Review von Dominik LippeSuperhelden beherrschen den Filmmarkt. 2008 legte Marvel mit "Iron Man" den Grundstein für eine jahrelange Dominanz, die das Mainstream-Kino in eine regelrechte Monokultur verwandelt hat. Es ist eine zwischen Pathos und Ironie schwankende Filmwelt, dessen Protagonisten ohne demokratische Legitimation gegen die Unwuchten der Welt antreten. Abgesehen von der fabelhaften Amazon-Serie "The Boys" haben bislang nur wenige den naheliegenden Zusammenhang zwischen dem Aufstieg Marvels und den autoritären Kräften des Westens à la Donald Trump beleuchtet.
Als der erste "Spider-Man" erschienen ist, herrschten zumindest im Kino noch unschuldigere Zeiten. 2002 lagen die Rechte des Comic-Helden noch bei Sony Pictures. Natürlich ging es auch ihnen vor allem darum, ein möglichst großes, zahlendes Publikum anzulocken. Davon zeugt schon der Soundtrack, der auf Verkaufsargumente wie den gefälligen Rock-Song "Hero" von Chad Kroeger und Josey Scott oder den Punk-Rap "What We're All About" von Sum 41 setzte. Doch inhaltlich ähnelt der erste "Spider-Man" eher einem Entwicklungsroman. Eine Heldenreise, in der es der Protagonist nicht mit Gott und der Welt aufnimmt, sondern sich zunächst selbst finden muss.
Für die Filmmusik stand schnell Danny Elfman fest, der sich in seiner Eigenschaft als Stammkomponist Tim Burtons bestens mit Außenseitergeschichten auskannte. "Wir waren beide etwas dysfunktionale Exzentriker, die versuchten, ihre Nische auf diesem Planeten zu finden", beschrieb er einmal sein Verhältnis zum Gothic-Regisseur. Des Weiteren konnte er mit "Men In Black" und "Good Will Hunting" (1997) bereits zwei Oscar-Nominierungen vorweisen. Dank "Darkman" (1990), "Armee der Finsternis" (1992) und "Ein einfacher Plan" (1998) war er zudem bestens mit Sam Raimi vertraut, in dessen Hände das Spider-Man-Franchise gelegt worden war.
Das Schreiben und Komponieren von Filmmusik sei "ein mühseliger Prozess", "eine phänomenal brutale Arbeit", schilderte Elfman 2002. Spaß bereite es ihm nur unmittelbar am Anfang und am Ende, dazwischen befinde er sich in einer Art Hochsicherheitsverwahrung. "Es ist nicht gerade das, was man Spaß nennen würde." Wie an einem Puzzle habe er an "Spider-Man" gearbeitet. Zunächst habe er sich drei große Teile in Form einer heroischen Sequenz, einer Liebesszene und eines Auftritts des Widersachers gegriffen und musikalisch untermalt. Anschließend arbeitete er sich Szene für Szene durch das Werk.
"Spider-Man" beginnt mit einer wunderbaren Titelsequenz, ein gestalterisches Element, das 20 Jahre später fast nur noch die Bond-Reihe und HBO-Serien am Leben erhalten. Spinnweben verknüpfen sich vor den Augen des Publikums, während Elfman die kommende Handlung musikalisch vorwegnimmt. Der "Main Title" baut leise Suspense auf, bis das Orchester Fahrt aufnimmt, als schieße es durch die Adern Peter Parkers. Rauschhaft schwingt sich die Musik in heroische Höhen auf und fällt melancholisch zurück. Dazu lockt ein Hintergrund-Chor den Helden sirenengleich, seiner Bestimmung zu folgen.
Wie John Williams' Produktionen für das Mainstream-Kino erklingt der "Main Title" sehr einladend, ohne dessen mitunter überzogene Feierlichkeit zu übernehmen. Auf der anderen Seite fehlt es dem musikalischen Kaleidoskop an Ohrwurmcharakter. Es ist gewissermaßen emotional sprunghaft wie ein Pubertierender. "Wer ich bin? Wollt ihr das wirklich wissen?", fragt Peter Parker aus dem Off, obwohl er sich da selbst noch unsicher ist. Denn "Spider-Man" erzählt die Geschichte seiner Hauptfigur in erster Linie als Coming-of-Age-Film rund um die Herausforderungen der Jugend.
Obwohl mit 27 Jahren schon damals viel zu alt, spielt Tobey Maguire seinen Peter Parker mit goldiger Unschuld. Er ist verliebt in Mary Jane (Kirsten Dunst), "das Mädchen von nebenan", ein beliebtes Mobbing-Opfer an seiner Highschool und nur mit Harry Osborn (James Franco) befreundet. Dessen Vater Norman Osborn (Willem Dafoe), CEO des Technologieunternehmens OsCorp, behandelt den angehenden Helden als einziger mit aufrichtigem Respekt. "Hoffentlich sehen wir uns wieder", verabschiedet der Nanotechnologie-Experte den ungelenken Schüler nach der ersten Begegnung per Foreshadowing.
Beiden steht eine Transformation bevor, einem aus Zufall und einem aus Verantwortungslosigkeit. Bei einem Schulausflug in die beeindruckend ausgestattete Columbia University beißt eine der "genetisch manipulierten Superspinnen" Peter Parker in den Handrücken. Zeitgleich droht OsCorp einen Auftrag des US-Militärs zu verlieren, der ein Exoskelett und einen "menschlichen Leistungsverstärker" umfasst. Letzterer zeigt an Mäusen noch Nebenwirkungen wie "Gewalt, Aggression und Wahnsinn", doch Osborn wagt den Selbstversuch. "Risiken gehören zur Laborforschung", heißt es lapidar in der Tradition des Mad Scientists.
"Transformations" fasst beide Verwandlungen musikalisch zusammen, womit es Parker und Osborn zur Schicksalsgemeinschaft erklärt. Mit dem Initiationsereignis des Spinnenbisses setzt das Stück ein. Streicher begleiten seinen Abstieg ins Koma, wütende Bläser den unruhigen Schlaf. Zugleich verleihen leise Chöre dem Laborunfall erneut einen gottgegebenen Anstrich. Ganz anders verhält es sich bei der Metamorphose des Unternehmers zum Green Goblin. In seinem Fall erklingt das Orchester angespannt, bedauernd und eingeschüchtert. Für den Wissenschaftler läuft die Zeit ab, wie die tickende Uhr illustriert.
Der Sekundenzeiger Parkers greift das Geräusch nahtlos auf, als dieser erwacht und mit verbesserter Sehkraft seine plötzlich gestählten Muskeln bewundert. Noch agiert er gehemmt, wenn er versehentlich erste Weben aus den Spinndrüsen seiner Handgelenke verschießt. Zunehmend beginnt er jedoch seine neuen Kräfte zu genießen. Die "Costume Montage" begleitet seine fiebrig freudige Erregung, die sich um mögliche Kostüm-Designs und Autokäufe dreht, die vor allem Mary Jane beeindrucken sollen. Dass er im jugendlichen Überschwang dumme Entschlüsse fasst, liegt da praktisch auf der Hand.
An dieser Stelle kommt sein misstrauisch werdender Onkel Ben ins Spiel. "Du bist jetzt in dem Alter, wo sich für einen Mann entscheidet, was für ein Mann er den Rest seines Lebens sein wird. Pass auf, in wen du dich verwandelst", richtet er sich mit mahnenden Worten an Parker. "Vergiss niemals: Aus großer Kraft folgt große Verantwortung." Die etlichen Parodien der vergangenen 20 Jahren dürften seinem Appell ein wenig an Nachdruck geraubt haben, wahr und wichtig bleibt er trotzdem, wie etwa die Achtlosigkeit von Figuren wie Donald Trump oder Elon Musk ständig unter Beweis stellt.
In "Spider-Man" ist es nicht die Wohlstandsverwahrlosung, die zu leichtfertigen Entscheidungen führt, sondern der ökonomische Druck. Parker begibt sich für kleines Geld als 'Die menschliche Spinne' zum Amateur-Wrestling, in dessen Folge sein Onkel umkommt. Selbiger war kurz zuvor wegen Rationalisierungsmaßnahmen entlassen worden. Und Norman Osborn hat sich nur deswegen auf das Experiment an sich selbst eingelassen, da das Militär sein Unternehmen unter Zeitdruck gesetzt und damit gedroht hatte, ihnen bei ausbleibenden Ergebnissen die Fördergelder zu entziehen.
Gekleidet in eine grüne Rüstung steuert Osborn nun als Grüner Kobold auf einem Kampfgleiter ein Straßenfest an. Seine "Parade Attack" beginnt als gedämpftes Aufmarschieren, das einer sehr subtilen Variante von Darth Vaders "Imperial March" ähnelt. Wie beim Übervater aller Bösewichte schreitet auch Elfmans Stück mit militärischem Zielbewusstsein voran, während die dröhnenden Bläser die teuflischen Absichten unterstreichen. Im Mittelteil schleichen sich kleine elektronische Elemente wie abgeschossene Spinnweben ein, mit denen der Komponist den einschreitenden Spider-Man abbildet.
Als der demaskierte Osborn später im Herrenhaus wie eine moderne Version von Dr. Jekyll und Mr. Hyde gegen die eigenen Dämonen anschreit, rücken die Percussions ins musikalische Zentrum. Mit 18 Jahren verbrachte Danny Elfman ein Jahr in Westafrika, wo er sich intensiv mit Schlaginstrumenten beschäftigt hat. In "Specter Of The Goblin" unterlegt er das Maskenmotiv des Films mit afrikanischen und nordindischen Drums, die der Szene des spielfreudigen Willem Dafoe etwas ungemein Archaisches verleihen. Mit ähnlichen Mitteln hatte der Komponist zuvor "Planet Of The Apes" (2001) vertont.
Held wie Bösewicht wachsen zusehends in ihren Rollen. "City Montage" greift Elemente des "Main Title" wieder auf, führt sie aber geradliniger und selbstbewusster aus. Spider-Man lässt sich quasi weniger von seiner Verbrecherjagd ablenken. Sein Hauptwidersacher erreicht in der "Final Confrontation" den Höhepunkt. Im Action-Finale rund um Reue und moralische Dilemmata tritt die dezente Wut der "Parade Attack" deutlich offener zutage. Im Moment der Niederlage bleibt bei Norman Osborn nur die Scham darüber, seine Kraft unverantwortlich eingesetzt zu haben.
Der Kampf gegen das Böse ist ein Klacks verglichen mit den Herausforderungen der Liebe. Parker offenbart sich eher verdeckt seinem Schwarm. Erst im Spider-Man-Outfit fasst er ausreichend Mut, Mary Jane zu küssen. Mit "Revelation" übertreibt es Elfman mit seiner vorwärts tastenden Keuschheit. Beim ikonischen Upside-Down-Kiss gefällt sich das Stück dann allzu sehr in seiner märchenhaften Süßlichkeit. Es sollte noch eineinhalb Filme dauern, bis sein Love Interest ihre eigene Hochzeit für ihn verlässt wie in "Die Reifeprüfung" (1967). Zumindest kann das Paar den Luftweg wählen, statt hinten im Bus Platz nehmen zu müssen.
Zu guter Letzt verabschiedet sich der siegreiche Protagonist zu "Farewell". "Wer ich bin? Ich bin Spider-Man", lässt Parker den Zuschauer noch wissen, während Elfman das kraftvolle und nun vollendete Heldenthema ertönen lässt. Statt ihn weiterhin aufzurufen, seinem Schicksal zu folgen, drücken die Chöre nun Ehrfurcht vor dem Helden aus, der sich durch die Hochhausschluchten schwingt. Ein aus musikalischer Sicht rundes Ende, wie auch Regisseur Raimi lobte: "Wenn der Chorus einsetzt, berührt mich das sehr. Und ich spüre, dass er seine Bestimmung erfüllt hat."
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare
Gemsehaud
Stimmt. Unterschätzter Score.