laut.de-Kritik
Die übersteigerte Exzentrik lässt nur wenig Raum für echte Emotionen.
Review von Toni HennigSchon früh fand Anna Depenbusch mit ihren poetischen Texten zwischen augenzwinkernden Alltagsbeobachtungen und philosophischer Melancholie, verpackt in chansonartige Melodien, eine eigene Nische. Auf "Echtzeit", das als analoger Vinylmitschnitt live und ohne Pause am 20. Januar in den Emil Berliner Studios in Berlin vor ausgewähltem Publikum entstand, verarbeitet sie nun authentische und unmittelbare Erlebnisse.
Dabei geht es oftmals darum, sich dem Smartphone- und Selbstoptimierungswahn zu entziehen und mehr im Hier und Jetzt zu leben. "Ich träume virtuos / in Slow-Motion-Videos / für meine kleine Freiheit / in Echtzeit", heißt es beispielsweise im eröffnenden Titelstück. Mit Modernismen kann die Hamburgerin aber ohnehin nicht viel anfangen, wie sie in "Alte Schule" gesteht: "Die neuen Spiele / der Liebesprofile / verfehlen meiner Meinung nach / sämtliche Ziele."
Daneben erfährt man in "Tim 2.0", wie der Protagonist aus ihrem Liebesreigen "Tim liebt Tina" heute lebt. Zudem gibt es noch ein paar Liebeskummer- und Weltschmerzballaden ("Nimm Mich Zurück", "5 Meter") sowie die ein oder andere Hommage an naturwissenschafliche Persönlichkeiten ("Eisvogelfrau (Für Emmy)", "Schlaflied Für Pauli (Piano)") obendrein.
Nur warum sich die Depenbusch "Liedermacherin" nennt, erschließt sich beim Hören nicht, könnten die Texte, die so gut wie ausnahmslos nach dem Reim dich oder fress dich-Prinzip funktionieren, doch genauso gut von Mark Forster oder Tim Bendzko stammen.
Sicherlich hört man bei ihr eine Prise mehr Humor raus, etwa wenn sie in "Alte Schule" zu Beginn so "manche Worte" nie im Leben "sagen würde", nämlich die "mit F oder mit B", sich aber so in leichtfüßig philosophische Gedankenspiele verliert, dass ihr am Ende trotzdem kurz ein schlüpfrig betontes "Old-School-Bitch" herausrutscht. Jedoch klaffen, wenn sich schon nach wenigen Zeilen erahnen lässt, wie die Geschichte in "Tim 2.0" ausgeht oder wenn sie in "Nimm Mich Zurück" permanent "Ich will dich so sehr" und "komm her und nimm mich zurück" ins Mikro plärrt, Anspruch und Wirklichkeit ziemlich weit auseinander.
Genauso vorhersehbar gestalten sich die Arrangements. Zwischen schlagerhafter Simplizität ("Echtzeit", "Tim 2.0") und gefühliger Balladigkeit ("Nimm Mich Zurück", "Beste Lüge") macht es sich die Hamburgerin letzten Endes zu bequem. Dabei steht ihr gerade die minimalistisch-kunstvolle Seite gut zu Gesicht, wie sie etwa in "Eisvogelfrau (Für Emmy)" beweist, wenn sie mit sparsamen Piano-Akkorden und anschaulichen Metaphern lebendige Bilder vor dem inneren Augen des Hörers entstehen lässt. Die kommt jedoch vor lauter Gefälligkeit meistens viel zu kurz. Von Individualität kaum noch eine Spur.
Das alles wäre aber noch verschmerzbar gewesen, wenn Depenbusch gesanglich der Versuchung widerstanden hätte, ihre Musik zu überdramatisieren und somit größer machen zu wollen als sie ist. Ihr pathetisches Geplärre erträgt man nämlich nur schwer, wenn sie in ohrenbetäubender Lautstärke die Vokale künstlich in die Länge zieht und auch vor dem ein oder anderen markerschütternden Jauchzer keinen Halt macht, so dass das Glas beinahe zerspringt. Weniger übersteigerte Exzentrik und mehr glaubwürdige Emotionalität hätte der Platte letzten Endes nicht geschadet.
Dass die Hamburgerin derlei Manierismen nicht nötig hat, belegen die Echtzeit-Demos, die der Special Edition als Zusatz-CD beiliegen. Die nahm sie vorab auf ihrem alten Flügel Frau Rachals auf, da sie ihn nicht ins Tonstudio für die Aufnahme von "Echtzeit" mitnehmen konnte. Im Vergleich zum Hauptalbum tönen die Arrangements sowohl filigraner als auch tänzerischer. Auch gesanglich lässt sich noch eine gewisse Unbeschwertheit heraus hören, die dann auf "Echtzeit" leider größtenteils der Vorschlaghammer-Methode zum Opfer fiel. Hätte es Anna Depenbusch nur bei dieser verhältnismäßig beschwingten und unverkrampften Variante belassen.
5 Kommentare mit einer Antwort
Ich habe neulich Menschen kennengelernt, die diese Musik mögen. Dadurch wurden Vorurteile bestätigt.
Naja, aber du magst Rap.
Verdammte Scheiße. Was ist nur in den letzten Wochen los? Ist kein gutes Album mehr erschienen, oder sind die auf so kleinen Labels untergegangen, daß diese laut.de kein Exemplar samt Gleitgel und Champagner schicken konnten?
Ich mag das Album, auch wegen der Umstände, unter denen es aufgenommen wurde. Ist halt eine Fortsetzung der Schwarz und Weiss Alben. Gerade Tim 2.0 und Nimm mich zurück sind Fortsetzungen anderer Lieder und deswegen nicht für sich zu beurteilen.
@virpi: welche Vorurteile?
Grausames Cover
Also ich bin eine von den Menschen, die diese Musik mögen. Nicht gerade dieses Album, aber einige Songs von Anna Depenbusch sind unschlagbar. Anhören: "Benjamin" und "Wenn du nach Hause kommst". Dann verzeiht man auch diesen Ausrutscher von 2020