laut.de-Kritik
Ein Gefühl kommt selten allein.
Review von Manuel BergerBezüglich der neuen Anoraque wird wohl jeder Hörer etwas anders wahrnehmen. Je nach Vorliebe lässt sich "D A R E" zurechtbiegen: Es in die Indie-Schublade stecken, es unter Avantgarde oder Artrock verorten, sich im Dreampop-Himmel fühlen oder die Punk/Alternative-Untertöne in den Vordergrund schieben. Fast jeden zwingen Anoraque dabei aber auch, den eigenen Horizont zu erweitern.
Die 2015 in Basel gegründete Band hat neben der vorliegenden Debütalbum bisher nur die EP "Disturbing Grace" im Repertoire. Schon dort vereinen sie eher selten zusammen auffindbare Elemente wie Mathrock und Lo-Fi-Punk, unternehmen einen kurzen Ausflug gen Doom und werfen über alles eine träumerische Indie-Decke. Das Resultat: Ein Gefühl kommt beim Hören selten allein - und in genau dieser Manier startet die halb deutsche, halb schweizerische Band ins Debüt.
Sängerin Lorraine Dinkel bewegt sich in Zeitlupe, zieht die Silben shoegaze-mäßig in die Länge, ihre Stimme weht wie ein zarter Lufthauch über "Peaks". Drummer Jan Schwinning dagegen folgt offenbar entgegen gerichteten Anweisungen: Nervös und hektisch bearbeitet er seine Hi-Hat und wehrt sich vier Minuten lang gegen jede Form von Ruhe. In "Uh-Oh" liegt eine süßliche Pop-Hook inmitten klanglicher Widerborstigkeit, durch die die Gitarre wie ein Hornissenschwarm rauscht und der Bass relativ unbeeindruckt von allem tanzbare Lines zieht.
Im Verlauf des Albums kippen Anoraque mal mit entschleunigtem Minimalismus in Richtung Massive Attack ("Rainbows"), mal mit verschlafenem Tagträumer-Timbre gen Damon Albarn ("Hollywood") oder mit der schlampigen Riff-Attitüde hippen Lo-Fi-Punks gen Dream Wife ("Using You", "Happy Happy Joy Joy"). Die anstrengende Noise-Nummer "Not Asking For It" garniert die Band mit passend unbequemen Lyrics. "Grab 'em by the pussy", schallt es wütend durch einen Distortion-Filter: "Slut! Whore!". Statt wörtlich gegen Sexismus anzusingen, mimt Dinkel ganz einfach den Marktschreier des Problems und reibt uns seine Widerwärtigkeit unter die Nase.
Dass "D A R E" trotz dieses immensen Abwechslungsreichtums über 16 Songs hinweg nicht auseinanderfällt, liegt daran, dass Anoraque auf bestimmte Elemente immer wieder zurückkommen. Weiche Reverb-Gitarren bilden etwa den gemeinsamen Nenner des vom unberechenbaren Jazz-Rhythmen geprägten "Monotony", des als Slowdive-Duett vertonten Beziehungsstreit über fehlendes Toilettenpapier und vergessenen Abwasch "Girlfriend" sowie des mehrstimmigen Moodpieces "If". Schwinnings rastloses Drumming verbindet das nostalgische "Wolf" mit "Peaks" und dem rohen "Uh-Oh". And so on.
Einfach zu erschließen ist "D A R E" sicher nicht. Doch macht man sich die Mühe, tiefer einzusteigen, belohnen Anoraque mit einem der aufregendsten Alben des Jahres.
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