laut.de-Kritik
Das wohl ungewöhnlichste Hardcore-Album aller Zeiten.
Review von Steffen EggertAls den jungen Menschen in den Vereinigten Staaten der späten 1970er Jahre der herkömmliche Punk zu weich und melodiös wird, veredeln sie diesen kurzerhand zum Hardcore Punk. Auf der inhaltlichen Agenda stehen weiterhin soziale Themen sowie Politik- und Gesellschaftskritik, jedoch wird die Geschwindigkeit ins beinahe Unermessliche gesteigert, dafür aber keinerlei Wert auf eine teure oder gar glatte Produktion gelegt. Die Epizentren dieses akustischen Bebens liegen in Südkalifornien, Boston, New York und in der Landeshauptstadt Washington D. C., die Protagonist*Innen sind in aller Regel blutjunge, weiße Vorstadtkinder, die fehlende Spielfertigkeit durch eine brodelnde Stinkwut im Leib ausgleichen.
Die absolute Ausnahme bilden die aus der Funkband Mind Power hervorgegangenen Bad Brains. Vier gestandene Musiker afro-amerikanischer Abstammung machen bereits 1978 mit ihrem ersten Demo Furore, landen im Vorprogramm einiger britischer Genre-Größen und kassieren aufgrund ihrer wilden Liveshows Auftrittsverbote in ihrer Heimatstadt Washington. Kurzerhand verlegt man den Lebensmittelpunkt in den Big Apple und mischt fortan die noch junge Szene auf. Dort entsteht 1981 das selbstbetitelte Debüt, das 1982 in Form einer Musikkassette auf dem frisch gegründeten New Yorker Label ROIR erscheint.
Geboten bekommt das geneigte Ohr eine wahnwitzige Berg- und Talfahrt voller widersprüchlicher Signale. Die ersten drei Stücke "Sailin' On", "Don't Need It" und "Attitude" ballern schlichtweg aus vollen Rohren und mähen alles weg. Das irrsinnige Tempo macht es beim ersten Hördurchlauf absolut unmöglich, einzelne Parts auseinanderhalten oder die Struktur der Riffs zu erkennen. Ob der hohen Geschwindigkeit gestaltet es sich ebenso schwierig, die Lyrics von Sänger H. R. zu entziffern, der zwar klar singt, aber eine Vielzahl von Silben in der Minute ausspeit. Auf das vermeintliche Chaos legt sich gelegentlich ein überraschend virtuos gespieltes Gitarrensolo, man kann an manchen Stellen kratzige Chöre erahnen und die Gesangsstimme überschlägt sich an genau den richtigen Stellen. Erst nach mehrmaligem Hören erkennt man die Komplexität der einzelnen Parts und das passgenaue Zusammenspiel der Rhythmusfraktion, die hinter der vordergründigen, wütenden Raserei stehen.
"The Regulator" sorgt im immer noch flotten Midtempo-Gang für eine kurze Verschnaufpause und lässt deutlich erkennen, dass die Bad Brains den Funk seinerzeit für britischen Punk verraten haben. Der knarzende, verzerrte Bass, die verhältnismäßig simple Akkordstruktur und die schnodderig-coole Gesamtstimmung halten nur kurz die weiße Fahne oben. Ohne Vorwarnung explodiert das Tempo erneut, nur um sich beim folgenden "Banned in D.C." weiter zu steigern. Diese kratzbürstige Hymne steht stellvertretend für die Frühphase der Rastas und lebt allein vom höchstmöglichen Abwechslungsreichtum, den man in einen gut zwei Minuten langen Hardcoresong gießen kann. Tempiwechsel und der damit einhergehende Druckauf- und Abbau, außerirdisch verzerrtes Solospiel und ein leicht bekloppt keifender und quietschender Sänger.
Kaum hat man den Fokus wieder alleine auf den akustischen Zorn gerichtet, stellt sich für Erstlauscher*Innen die erste große Überraschung ein. Das ruhige, positive, beschwichtigende Reggae-Dub Intermezzo "Jah Calling" mit seiner bekifften Wah-Gitarre. Was ist das denn? Gerade wollte ich noch alles zertrümmern und nur Schutt und Asche hinterlassen, jetzt sitze ich am Strand in der Sonne. Dürfen die das? Ja, logo. Der geniale Schachzug geht bei näherer Betrachtung voll auf, da es dadurch absolut unmöglich sein dürfte, das Album unbedacht und ungebremst an sich vorbei rauschen zu lassen. Touché.
Die Ruhe währt natürlich nicht lange, der Zerstörungsmodus kommt mit "Supertouch/Shitfit" in großen Schritten zurück, also alles zurück auf Irrsinn. Hier scheint es, als habe man sich nicht mit Nichtigkeiten wie Mix oder Master im Studio aufgehalten, sondern alles so eingeprügelt, wie es gerade in den Kram gepasst hat. Obwohl (oder vielleicht auch weil) der Sound mies und mumpfig ist, fügt sich alles wunderbar in der Gesamtkonzept des Albums ein. Die Gesangsgeschwindigkeit allein lenkt von allem anderen ab. Mit dem anprangernden "Leaving Babylon" finden wir uns endgültig im Reggae wieder, dieses Mal allerdings mit einem vollwertigen Song. Gemütlich tanzt der Bass, H. R. überrascht mit einer überaus angenehmen Gesangsstimme, der Hall-Regeler steht auf 11. ">My people are starving, but your money's running", es klingt schon beinahe wie eine Predigt, aber doch sehr angenehm.
Das einminütige "F.V.K. (Fearless Vampire Killers)" hätte auch gut an den Anfang des Albums gepasst und rauscht wie ein Güterzug durch den Raum. Trotz der gefühlten Lichtgeschwindigkeit der Musik bleiben hier doch recht schnell einige Melodien hängen. Das erinnert leicht an eine zeitgleich agierende Horrorpunkband aus New Jersey, was sich bei "I" sogar noch intensiviert. Abgesehen vom entrückten Gesang. Ähnlich episch, düster uns cool geht es hier zu, und auch die Produktionen ähneln sich. Kein Prädikat, aber immer überaus authentisch.
"Big Takeover" erscheint noch etwas langsamer und bedrohlicher, allerdings wird hier mit ein wenig Reggae-Groove und leichter zu greifender Stimme gearbeitet, was dem ohnehin schon spürbaren Abwechslungsreichtum weiter zugutekommt. Das fröhliche "Pay To Cum" wurde bereits einige Zeit vorher als Single veröffentlich und ebnete der Band den Weg auf die Bühnen der Clubs. Unverständliche Gesangssalven münden in einen zwar schnellen, aber überaus gefälligen Chorus. Man kann sich schon gut vorstellen, dass damit die Neugier der jungen Szene auf eine komplettes Live-Set geweckt war.
Das wieder eher klassische, im moderaten Tempo gehaltene "Right Brigade" leidet tatsächlich etwas unter der wirklich scheußlichen Produktion, man nimmt die Emotionen aber auch trotz des kratzigen Geschreis als durchaus tief wahr. Bevor man sich allerdings dem Erschauern hingeben muss, leitet "I Luv I Jah", das epische Ende des Albums ein. Im dritten Reggae-Anlauf perfektionieren die Bad Brains die Ausflüge in ein völlig gegensätzliches Genre. Es geht um Gott und eine "positive mental attitude", vielleicht auch darum, seinen persönlichen Frieden zu finden, so zumindest wirkt es. Und nach all dem vorangegangen Durcheinander kann ein wenig Frieden wahrlich nicht schaden.
Warum das Intro am Ende steht, weiß nur Jah allein.
Alles in allem ein hochinteressanter, aufregender, geschichtsträchtiger Trip, den man zumindest einmal im Leben gehört haben sollte.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
4 Kommentare
Für InNo nur MAinstream, ich bitte euch.
Lange überfälliger Meilenstein
Eine meiner absoluten Lieblingsbands. Finde das zweite Album aber sogar besser.
Geile Band!