laut.de-Kritik
Der Prog-Express auf hoffnungsvoller Mission.
Review von Yan VogelLieder über die Welt würden wohl die reinste Kakophonie ergeben. Welches Klanggemisch würde wohl adäquat die Geburt eines Kindes, den Tod eines lieben Menschens oder globale Katastrophen wie den Klimawandel oder die Pandemie beschreiben?
Big Big Train nehmen sich als Albumtitel das große Ganze zur Brust. Um sich dem anzunähern, pickt sich der Prog-Express nun einzelne Dimensionen des Weltgeschehens heraus, um sie zu vertonen. Volle Kraft voraus heißt es etwa im Melodienfeuerwerk "The Strangest Times". "Dandelion Clock" und "Headwaters" stehen indes für die beschauliche Seite des Kollektivs. "Common Ground" verbleibt im beindruckend vielseitigen Bandgefüge: Stilistisch ausschweifend spricht jeder Song am Ende für sich, selbst das ausufernde "Atlantic Cabel".
"More than unites us than divides us" ziert in vielen Sprachen den auf dem Cover abgebildeten Erdball. Diese utopische Losung mündet hier aber mitnichten in Wohlfühlprog. Vielmehr tastet sich die Gruppe zu einer hoffnungsvollen Vision vor.
Die erbaulichen Zeilen "We see the same stars, walk the same ground / Lit by the same sun, we could be one" unterlegt die Band mit modaler Harmonik, die auf den ersten Eindruck nicht mit den Zeilen zusammenpasst, sondern ihn verfremdet. Bücher sind der Inhalt des Songs: Diese verbinden Menschen und Epochen. Diese Verbindung stellt textlich gesehen die Essenz dar.
Auf einem Bandpic sind nur die beiden Zugführer Gregory Spawton, einziges verbliebenes Gründungsmitglied, und Dave Longdon, Frontmann und Flötist, abgebildet. Ergänzt werden beide durch die langjährigen Mitglieder und Multiinstrumentalisten Nick D'Virgilio (Spock's Beard) und Rikard Sjöblom (Beardfish, Gungfly), die in Übersee pandemiebedingt via digitaler Kommunikation an der Platte beteiligt waren. Dass diese Form des Ausstauschs auch in unpersönliche wie ungefilterte Richtungen abdriftet, ist zu ertragen. Der Meinungsvielfalt ist dadurch geholfen.
Das Quartett bildet ein kreatives Kollektiv, das vereinzelt um eine weibliche Stimme, Geige oder Bläser verstärkt wird. Longdon verkörpert mit seinen Songs, etwa dem Titeltrack oder dem flotten Opener "The Strangest Times", die zugängliche Seite. Spawton hingegen ist Progger durch und durch, weiß aber dem Hirn auch Herz beizumengen wie die abschließenden Songs "Atlantic Cabel" und "Endnotes" beweisen. Sjöbloms Beitrag manifestiert sich insbesondere im fulminanten Gitarrenspiel. Einzig in der verträumten Piano-Elegie "Headwaters" tritt er als Songwriter in Erscheinung.
Für weitere spannende Akzente sorgt D'Virgilio mit seinen beiden Songs. Mit "Apollo" liefert er den aus seiner Sicht ultimativen Big Big Train-Instrumentaltrack. Genesis, Jeff Beck, Mahavishnu Orchestra markieren die Eckpunkte dieses unfassbaren Reigens an musikalischen Aha-Momenten.
"All The Love We Can Give" beginnt mit sonorem Gesang, der in seiner nonchalanten Art an Leonard Cohen, Johnny Cash oder Nick Cave erinnert. Der luftige Beat, das beschwingte Gitarrenpicking und die Backing-Vocals ergänzen die Strophe und münden in einen Refrain, in dem die Stimmen zusammenfinden und die Melodie im Gedächtnis bleibt. Die besungene Liebe ist nicht nur von Nähe und Distanz wie im Wechselspiel von Refrain und Strophe geprägt, sondern lebt insbesondere von Spannung, untermalt von Ausflügen in Richtung Seventies-Prog und Neoprog. Dabei belassen Big Big Train nichts dem Zufall, getreu dem Motto 'jede Note an ihren Platz'.
Wie David Longdon in "The Strangest Times" die Zeit der Pandemie verarbeitet, ist ergreifend. Er zieht bewusst die optimistische Brille auf und versucht mit einem Back to nature-Ansatz dem Abstandsgebot etwas Positives abzugewinnen. Nach der Findungsphase, die Big Big Train auf ihrer letzten Platte "The Grand Tour" beschrieben haben, liefert das Kollektiv mit "Common Ground" eine Standortbestimmung voller musikalischer Finesse und Fortschrittsdenken.
2 Kommentare
Ach, schön. Wieder eine BBT-Rezi hier... Bin mit dem Album noch nicht ganz warm geworden. Mal sehen.
I wike twaaaaains. Choo chooooooo!