laut.de-Kritik
Tanzen und Denken schließen sich nicht aus.
Review von Erich RenzHamburg, 1994. Blumfelds zweites Album nach der "Ich-Maschine" warf schon Fragen auf - da hatte man sich noch nicht einmal dem Klanginhalt gewidmet. Das Cover verweist auf "50.000.000 Elvis Fans Can't Be Wrong", das neunte Studioalbum des King. Dazu in Großbuchstaben bedeutungsschwanger: "L'ETAT ET MOI". Der Staat und ich. Aber auch: Der Zustand und ich.
Blumfeld hatten einen interpretatorischen Fallstrick gelegt, bevor der erste Song "Draussen Auf Kaution" überhaupt erklingen konnte. Denn was ihren Sound betraf, da schien Grunge nur einen Katzensprung entfernt und Shoegazing vor der Tür zu stehen.
"Überall sind Menschen in den Straßen / Kenn ich nicht, gehöre nicht dazu / Frage mich, zu wem ich denn gehöre / Und wenn wer zu mir spricht, hör ich nicht zu / Ich seh dich und wie wir uns umarmen / Wenn ich die Augen öffne, war es wieder nur ein Traum / So geht es jeden Tag, an jedem Morgen / Tiefer ins Alleinesein."
Jochen Distelmeyers Erzähler lag auf der Streckbank und fand sich wieder in einem Dilemma, was Staat und Zustand anging. Als politisches Wesen entkommt der Mensch nicht seiner Gesellschaft. Genausowenig kann er vor sich selbst fliehen. Er wird eingeholt von Gefühlen, die sein inneres Gleichgewicht ausmachen. Ist "L'Etat Et Moi" also der Austragungsort des Ringens mit sich selbst? Und wie kann das ohnehin schon gebeutelte Ich gegen sein ihn beherrschendes Umfeld ankämpfen?
Lösungsvorschlag: Die Ärmel werden hochgekrempelt und "irgendwie gehts dann doch raus aus den vier Wänden". Schließlich will "L'Etat Et Moi" keine reine Stubenhocker- und Kopfzerbrecher-Platte sein. Tanzen und Denken haben sich in den Neunzigern nicht ausgeschlossen, wie "Ich - Wie Es Wirklich War" beweist.
"Also nichts wie raus aus Hamburg / First we take Manhattan und dann ab nach Berlin" lautet die Parole in "Eine eigene Geschichte", eine Anspielung auf Leonard Cohen. An anderer Stelle heißt es: "Macht verrückt, was euch verrückt macht". Hier schimmert deutsche Popgeschichte durch, wer kurz an Ton Steine Scherben denkt.
Distelmeyer setzte das Zitat als Katalysator ein, um den Erzählvorgang zu beschleunigen und die eigene Geschichte zu bereichern. In die Blackbox gab er allerhand, ob Friedrich Hollaender, Bob Dylan oder Paul Celan. Als Ergebnis stand immer ein neuer Text parat, der seine Anbindung zum Ursprung nicht verlor.
Spex-Rezensent Christoph Gurk schrieb zur Veröffentlichung im Magazin 09/94, Distelmeyer lasse "die ganze Welt, und seien es noch die entlegensten Details aus Songs, Filmen, Büchern zu einem monomanischen Text zusammenschießen, in dem alles mit allem zusammenhängt, bis das Ergebnis seiner Arbeit an sich selbst, nahe der Überhitzung mit Zitaten, Metonymien, Binnenreimen, Inversionen angestaut, als semantisches Inferno über den Hörer niedergeht."
Was nicht gesungen werden konnte, musste rezitiert werden ("L'Etat Et Moi - Mein Vorgehen in 4,5 Sätzen"). Wörter erhoben sich nicht nur für den Texter zu Heiligtümern. Auch die Sprachwissenschaft und das Feuilleton waren angetan. Von der Musik war jedoch selten die Rede. Distelmeyers Sätze formten sich zu Dynamit, während sein "Verstärker" (zu hören im gleichnamigen Song) unter dem Feedback ächzte und der große Knall sich als Drohkulisse anbahnte.
Ein genauso wichtiges Verdienst dieser Band war auch, Akkorde als unabhängiges, ja sogar zweites Sprachrohr einzusetzen. Distelmeyers Gitarre untermalte nicht nur seine Textdichtungen, sie sang ihre eigenen Melodien. Lief teilweise parallel, wie im Duett, neben seinen Sprech- und Singakten (zu hören bei "Superstarfighter" und "You Make Me").
Mit diesen Melodien kam die leise Vorahnung auf, dass Blumfeld eine Gruppe für die deutsche Allgemeinheit werden könnte. Dies bestätigte sich, als Jochen Distelmeyer von seiner stimmlichen Klarheit auf dem Nachfolger "Old Nobody" Gebrauch machte und uns Honig in die Ohren träufelte.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
12 Kommentare
Ich wollte an der Stelle nur noch mal erwähnen dass Fanta 4 einen Meilenstein bekommen haben und Led Zeppelin nicht. Album Nr. 4 bitte
@SexyBoots (« Ich wollte an der Stelle nur noch mal erwähnen dass Fanta 4 einen Meilenstein bekommen haben und Led Zeppelin nicht. Album Nr. 4 bitte »):
Nach dem Echo fürs Lebenswerk wäre es für Led Zep auch der absolute Ritterschlag, in eine Meilensteinkategorie mit Fanta 4 zu fallen.
Die Fantas haben ihren Meilenstein völlig zu Recht, genau wie Led Zeppelin bald - alles ist cool, ihr Neger.
Gestern gleich noch einmal angehört und was soll ich sagen?
Steht in dieser Rubrik sowas von verdient...
Die sind kacke!
Falscher Stein!!Wenn überhaupt dann `Ichmaschine` von Blumfeld. DAS ist wirklich ein Meilenstein gewesen.Hier gibts nur `Verstärker`der an Ichmaschine-sound ranreicht.