laut.de-Kritik
Das Licht am Ende des Tunnels
Review von Mirco LeierEs kommt einem schon Äonen entfernt vor, da waren Brockhampton noch ein Geheimtipp. Ein Weirdo-Kollektiv aus Kanye-Fans, die sich blau anmalten und in DIY-Videos durch Suburbia turnten. Dabei hat die Saturation-Trilogie, die man bereits jetzt guten Gewissens als moderne Klassiker bezeichnen kann, gerade einmal vier Jahre auf dem Buckel.
In diesen vier Jahren sind Joba, Kevin Abstract, Merlyn Wood, Dom McLeonnon, Matt Champion, Bearface und Konsorten jedoch sowohl emotional als auch musikalisch um Dekaden gealtert. Der Rauswurf Ameer Vanns, die Arbeit mit dem mittlerweile ebenfalls der sexuellen Gewalt beschuldigten Shia LaBeouf, schwindende mentale Stabilität und der endgültige Durchbruch in den Mainstream mit "Sugar" machten aus den umtriebigen Twenty-Somethings von einst eine Gruppe gereifter Erwachsener, die zunehmend mehr emotionalen Ballast in zunehmend weniger ambitionierten musikalischen Experimenten entluden.
"Saturation" war aufregend, wild und in den genau richtigen Momenten introspektiv, ohne zu dick aufzutragen. "Ginger" war harmlos, aber bis zur Oberkante mit emotionalen Zündstoff beladen. "Iridescence" ist das ambivalente Bindeglied dazwischen. Kein Brockhampton-Album ist per se schlecht, nur konnte die Gruppe das Erfolgsrezept ihrer ersten drei LPs nie wieder in deren Virtuosität reproduzieren, geschweige denn weiterentwickeln. Bis jetzt. Denn mit "Roadrunner: New Machine, New Light" finden Brockhampton nicht nur zu alter Stärke zurück, ihnen gelingt auch endlich die Umsetzung der Ideen, die sich auf ihren letzten Langspielern hier und da noch als Rohrkrepierer entpuppten.
Wie der namensgebende Cartoon-Charakter, rennt "Buzzcut" mit einem hyperaktiven "Meep! Meep!" auf den Lippen die Tür ein. "Who let the dope boys out?", fragt Kevin Abstract, und prompt fühlt man sich wieder daran erinnert, was Brockhamptons Frühwerk damals so aufregend machte. Musikalisch beschreitet die Gruppe 2021 kein völliges Neuland, das tat sie aber auch damals nicht. Ihr größter Trumpf war schon immer die Mühlelosigkeit und die Unverkrampftheit, mit der sie ihren juvenilen Hipster-Esprit in unorthodoxe, verspielte und unglaublich eingängige Banger kanalisiert, die sich Genre-Definitionen weitestgehend widersetzen.
Und nachdem sie diesen Trumpf auf ihren letzten LPs schüchtern in der Hinterhand hielten, schütteln sie ihn nun lässig aus dem Ärmel. "Roadrunner" klingt wieder lebendig und frisch, entwickelt einen sich konstant weiterentwickelnden Strom aus Emotionen und Sounds, der am Ende zu einem überwältigenden Wasserfall anschwillt. Hip Hop, Pop, R'n'B, Soul und sogar Gospel: Noch nie waren die Amerikaner so breit, und gleichzeitig so kohärent aufgestellt. Schon in den ersten Minuten wechseln sie leichtfüßig zwischen entspanntem Boom Bap ("Chain On"), zuckersüßem Pop-Rap ("Count On Me") und hektischen Trap-Bangern ("Bankroll").
Was "Roadrunner" zusätzlich von all ihren bisherigen Alben unterscheidet, ist zum einen das großzügige Öffnen der Tore für auswärtige Kollaborateure (die alle ohne Ausnahme abliefern), und andererseits das Trimmen des Fetts. Nicht jeder Song bietet mehr jedem Mitglied die Möglichkeit seinen Senf dazuzugeben, und das ist auch gut so. Das macht die reduzierten, dafür aber exakt auf sie zugeschnittenen Auftritte eines jeden einzelnen um so effektiver.
Das heißt allerdings nicht, dass es nicht wieder einen insgeheimen Star gibt, der dem Rest des Kollektivs ein wenig die Show stiehlt. Es genügt ein Blick aufs Cover um auszumachen, wer das in diesem Fall ist. Joba, dessen transzendente Silhouette wie ein Geist auf dem Jewel-Case prangt, verleiht fast allen der dreizehn Songs eine ähnlich gespenstische Note und erdet die LP damit inmitten seiner turbulenten Gefühlswelt. Der Grund dafür ist der letztes Jahr geschehene Suizid seines Vater, der ihn und sein Verständnis von der Welt um ihn herum komplett auf den Kopf stellte.
Am niederschmetterndsten wird das auf "The Light" deutlich. Über aggressive Gitarren die wie Messerklingen das Instrumental bearbeiten, durchlebt Joba sein Trauma erneut. ("Think I always will be haunted by the image / Of a bloody backdrop, skull fragments in the ceilin' /Felt your presence in the room, heard my mother squealin'.") Im Chorus beklagt er wenig später: "Something's missing deep inside, the light". Kevin Abstract greift diese Emotionalität auf und erzählt im zweiten Verse von seiner schwierigen Kindheit in Texas, dem Hadern mit dem eigenen Erfolg und der Wahrnehmung seiner Sexualität. Es ist eine Bestandsaufnahme der Ohnmacht und der Hilflosigkeit, die einem als Hörer*in alles abverlangt.
Ab diesem Punkt in der Tracklist wird Jobas Trauma und die Erinnerungen, die es in den anderen Mitgliedern wachruft, zu einer Art Leitmotiv. Auf dem Neptunes-esken "When I Ball" beispielsweise erinnern sich Matt Champion und Dom McLennon an vergangene schicksalsträchtige Gespräche mit ihren eigenen Eltern. "What's The Occasion" greift die einschneidenden Gitarren aus "The Light" erneut als Grundlage für ein weiteres wunderschönes Kapitel im Kampf gegen die eigenen Dämonen auf, und Bearface leistet seinem Freund mit dem passend "Dear Lord" betitelten Gospel in Gebetsform Beistand.
"Dear Lord, will you come down and help my brother/ He needs you more / I want him to know that he’s still loved", singt er durchzogen von tiefster Empathie. Es ist einer dieser Momente, die fast zu intim klingen, als sei er überhaupt nicht für die Ohren Tausender anonymer Hörer bestimmt. Gleichzeitig ist es auch einer der Momente, in denen Brockhampton zu mehr werden als "nur" eine Grupper junger Wilder, die gute Musik machen. Der kürzeste Song der LP verdeutlicht eindrucksvoll, wie viel sie sich untereinander bedeuten, macht greifbar, wie sehr sie die letzten vier Jahren zusammengeschweißt hat. Als Musiker, als Geschäftspartner aber in allererster Linie als Menschen.
Die einzigen Ausnahmen, die mit der Melodramatik der zweiten Hälfte zumindest instrumental brechen und eher wieder an den Sound des Albums-Anfangs anknüpfen, sind "Windows" und "Don't Shoot Up The Party". Erster kommt als heißhungriger Posse-Cuts daher, der dann doch noch jedem Mitglied (selbst dem eigentlich aufs Singen beschränkte Bearface) einen kompletten Verse zur Verfügung stellt. Brockhampton wären aber nicht Brockhampton, wenn sie diesem Konzept nicht ihren eigenen Spin verpassen würden.
Konkret heißt das: Nachdem der Song mit jeder Performance mehr und mehr an animierten Momentum gewinnt (Dom klingt stellenweise fast ein wenig wie ODB), leitet eine gesungene Bridge in ein sample-lastiges, von LoFi-Ästhetik geprägtes Outro über. "Don't Shoot Up The Party" nimmt konträr dazu über seine gesamte Laufzeit den Fuß nicht einmal vom Gaspedal. Von den ersten A Capella-Reimen Kevin Abstracts bis hin zum abrupten Ende: Der G-Funk-Banger erinnert wohl am prominentesten an die Abrissbirnen, mit denen sich die Gruppe in ihren Anfangsjahren einen Namen machten.
Jobas familiäre Tragödie hat Brockhamptons Musik bis in seine Grundfesten erschüttert. Es ist ein emotionaler Nullpunkt, wie sie ihn noch nie in ihrer Karriere aufarbeiten mussten, und dennoch ist ihr Umgang damit äußerst gefühlvoll und erwachsen. Das macht vor allem die Fortsetzung von "The Light" klar, die das Album abschließt. Es ist wortwörtlich das Licht am Ende des Tunnels.
Instrumental ziehen Jabari, Goldwash und William Van Zandt die Wolken vom Himmel und lassen mit warmen Gospel-Background-Vocals und subtilem Gitarren-Gezupfe die Sonne wieder strahlen. Inhaltlich knüpfen Kevin Abstract und Joba währenddessen nahtlos an den ersten Teil an, mit dem Unterschied, dass der Unterton nicht mehr aussichtslos sondern hoffnungsvoll tönt. "The light is worth the wait" singt Joba, sich selbst fragend, was seinen Vater zu einer solch endgültigen Entscheidung trieb.
Sein schließender Verse ist reinstes Gänsehaut-Material, das einem die Tränen in die Augen treibt. Jedes Wort zeugt von Wut, von Ratlosigkeit, von Trauer, aber vor allem von einer unendlichen Liebe seinem verstorbenen Vater gegenüber. Die Erlösung, die Katharsis sie kommt leise in Form der stillen Akzeptanz. "That's life", sagt Joba am Ende. Und viel wichtiger: "It's safe to say I'll find a way out the darkness".
Musikalisch setzt das einen Schlusspunkt wie er passender nicht sein könnte. Für ein Album, das nicht nur das erwachsenste und wahrscheinlich wichtigste in der Geschichte der Band ist, sondern auch mit einem Paukenschlag deren letztes Kapitel einleitet. Ein weiteres soll dieses Jahr noch folgen, dann wollen sie getrennte Wege gehen. "I'm tired of this boyband thing", sagt Abstract in einem Interview mit The Guardian. Auf die Frage, als was er Brockhampton dann definieren würde, antwortet er: "A community, friends, homies."
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