laut.de-Kritik

Ostdeutschland hat endlich eine Stimme.

Review von

Es gibt unbeschreiblich schöne Momente im Leben eines Musikliebhabers. Manche davon bleiben einmalig, andere kehren zyklisch wieder: Völlig erwartungsfrei die Scheibe eines No-Names in den Player zu legen und die eigene Zunge langsam auf den Teppich rollen zu sehen, sobald die entsprechenden Hirnsektoren begriffen haben, was sie da eigentlich gerade verarbeiten ... zum Beispiel.

Der letzte Rapper, der mich mit einem derartigen Gefühl beschenkte, hieß Mopz Wanted. Während der mit seinen monumentalen Reimsalven und epischen Beats vor allem Gefühle projizierte, widmet sich CHS verstärkt dem Storytelling. Konsequent fahren seine Beats die Weniger-ist-mehr-Schiene, nutzen hier aber ein breites Spektrum aus. Teils pitcht er seine Gesangssamples und legt Pianoloops darunter oder lässt das Saxophon die Blue Note spielen, teils bedient er sich asiatischer Filmmusik. Synthetische Klänge müssen draußen warten, den Soundtrack zu diesem melancholischen Monstrum läuten Instrumente ein. Deutschlands beherzteste Beats kommen nach wie vor von Debütanten.

Die Geschichten, die der Rapper im Gepäck hat, machen auf ihrem Weg von Ohr zu Hirn noch einen Abstecher zum Rücken und sorgen dort für eine veritable Gänsehaut. Betroffenheit pur, wenn CHS in "Allein In Der Dunkelheit" die Lebensgeschichte eines Obdachlosen erzählt. Oder beim erhobenen Zeigefinger in "Du Brauchst Nicht", fernab von der Coolness eines Prinz Porno oder den abstrakten Betrachtungen eines Thomas D. Da steckt einfach zu viel Wahrheit drin, als dass es aufgesetzt wirken könnte.

Der Osten hat endlich eine Stimme: Obwohl CHS' Zelte inzwischen in Düsseldorf stehen, ist er unzweifelhaft von seiner Kindheit im thüringischen Grenzstreifen geprägt. In "Erscheinungen" lässt er einschneidende Erinnerungen aus dieser Zeit Revue passieren, im Übertrack "Ostwind" thematisiert er die Wiedervereinigung. Obwohl er das DDR-System aufs Schärfste verurteilt, findet er auch deutliche Worte für Bewohner der alten Bundesländer: "Das war der Schlussauftakt für unseren Arbeiter- und Bauernstaat - der Frust war fort fürs erste, weil es nunmehr keine Mauer gab - Vielleicht war's gut gemeint mit euren 100 Mark Begrüßungsgeld - doch wofür? Dass Ossi euch wie ein Untertan zu Füßen fällt?". Die Schuld an der Misere möchte er nicht nur westdeutschenn Wirtschaftsmogulen anlasten: "Es war schon schlimm mit anzusehen - was der Fall der Mauer ändert: - Im Handumdrehen wird die Zone Nährboden für Bauernfänger" oder "während Andere stumm daneben stehen und nicht begreifen, was passiert - statt einzugreifen schweigen, wenn der Sohn den Schädel nass rasiert". Auch wer die Gegend nicht kennt, kann sie sich dank der Texte bildlich vorstellen.

Dabei bleibt CHS technisch immer auf hohem Niveau und reiht keinesfalls nur Doppelreime aneinander. Für einen Mann mit seinem Talent wäre es ein leichtes gewesen, grandiose Battle- oder Partyrapalben aus dem Ärmel zu schütteln. Statt dessen bereichert er die hiesige Szene mit 15 Reisen in andere Welten, deren gewisse Grundtristesse auch immer durch einen Hoffnungsschimmer erhellt wird.

Wenn an dem Mann überhaupt etwas zu bemängeln ist, dann ist es die gewisse Eintönigkeit in seinem Stil, die sich durch alle Tracks wie ein roter Faden zieht. Dennoch: dieses Album macht Spaß, und beweist, dass Niveau im Hip Hop 2005 so weit von einem Todesröcheln entfernt ist, wie Viva von Musikfernsehen.

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. Allein In Der Dunkelheit
  3. 3. Erscheinungen
  4. 4. Mach's Dir Bequem
  5. 5. Einsicht ft. Rheza
  6. 6. Du Brauchst Nicht
  7. 7. Keine Angst ft. PED
  8. 8. Schweigeminute
  9. 9. Ostwind
  10. 10. Heute Steh Ich Hier
  11. 11. Lebensrapper
  12. 12. Skit ft. DJ Mole
  13. 13. Zu Spät ft. SirRound
  14. 14. Kein Weg Zurück
  15. 15. Zeichen Setzen

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT CHS

Tefla und Jaleel ruhen unter anhaltinischer Erde, die Rostockerin Pyranja hat ihren Überraschungsbonuns längst verspielt. Anno 2005 sind die neuen Bundesländer …

12 Kommentare