laut.de-Kritik
Wer hat den schönsten Oberlippenbart?
Review von Michael SchuhDeutschland 1988: Die Mauer stand noch, nach Meinung einiger Individuen bis mindestens 2088, da passierte gar Ungewöhnliches. Ein schwäbisches Trio machte Musik wie Depeche Mode, hieß aber Camouflage und stand plötzlich nicht nur in unseren Hitparaden ganz oben, sondern auch in den US-Billboard Dance-Charts. Muss man sich mal vorstellen: Vor den Pet Shop Boys, Duran Duran, Michael Jackson, Samantha Fox und Ofra Haza.
Die aufwändig konzipierte Doppel-CD "Archive #01" erinnert an diese aufregende Zeit, zum einen mit der historischen Abbildung der Billboard-Charts vom 10. Dezember 1988 und dann natürlich mit der Musik. 26 Songs haben die bis heute aktiven Herren Meyn (Gesang), Maile und Kreyssig (Keyboards) zusammen getragen, allesamt aus den Archiven ihres wahrlich reichen Synthie Pop-Kanons von 1985 bis heute.
Wo die 2001 erschienene Werkschau "Rewind - The Best Of 95-87" mit allen Hits noch Fans sowie RTL-"80er Show"-Gucker ansprach, geht "Archive #01" ans Eingemachte: B-Seiten, Remixes, Demos und unveröffentlichtes Zeug - the full story.
Los gehts natürlich mit "The Great Commandment" in jenem Remix, der damals die US-Clubs aufwirbelte. Erschienen übrigens auf dem Label von Ahmet Ertegun, dem kürzlich in London per Led Zeppelin-Reunion gehuldigt wurde. Bietigheim Rock City!
Den zweiten Camouflage-Hit "Love Is A Shield" fanden die US-Käufer 1989 dann nicht mehr ganz so spannend, die Ablösung des Elektro Pop-Mainstreams vom Grunge-Zeitalter stand kurz bevor. Selbst Depeche Mode klampften plötzlich Blues-Riffs ("Personal Jesus").
Gitarren sind auf "Archive #01" erwartungsgemäß in der Minderheit und werden allerhöchstens melodiebegleitend eingesetzt. Der sehr schöne Club Mix von "Heaven (I Want You)" gewährt dem Sechsseiter gar die prominentete Stelle im Song.
Warum die Stuttgarter bis heute im Geschäft sind, belegen zeitlose Songs wie eben "Heaven", "Handsome", "That Smiling Face" oder "Suspicious Love", wenngleich in letzterem Fall die von Technobeats freie Albumversion vergleichsweise atmosphärischer ist. Kommt vielleicht auf Teil zwei dieser ausführlichen Retro-Veranstaltung, die nach Aussage der Band bereits in Planung ist.
Das Andocken an jeweils aktuelle Strömungen wie Techno belegen Remixes von "Love Is A Shield" (Lexy & K-Paul) oder "Thief" (Der Dritte Raum), die beide mit den Trademark-Beats ihrer Remixer aufwarten. Die Herren Huntemann und Bodzin verpassen der neueren Komposition "Perfect" (2003) einen legeren, tanzbaren Anstrich.
Die Auswahl der Raritäten gestaltet sich mannigfaltig: "Mr. X", einer der wenigen auf deutsch verfassten Songs der Gruppe, die Kraftwerk-Hommage "Kling Klang" (1989) oder gleich eine Liveversion von "Computer Liebe" - Camouflage gehen sogar in die Zeit zurück, als ihre Gruppe noch Light & Technology hieß.
Damals entstand die Instrumental-Nummer "Camou Says Abdulu", der Titel eine Anspielung auf damals aktuelle T-Shirts der Gruppe Frankie Goes To Hollywood mit der Aufschrift "Frankie Says Relax". Noch witziger ist freilich nur das Live-Foto aus dem Segelfliegerheim Bietigheim-Bissingen des Jahres 1985, das nur eine einzige Frage erlaubt: Wer hat den schönsten Oberlippenbart?
3 Kommentare
gute band die aber auch oft hinter ihren möglichkeiten blieb.
da gabs doch diesen badischen widerpart, wie hieß der doch gleich?
yeah, lineage. kann man auch französisch aussprechen, also wie camouflage
http://www.myspace.com/lineagerocks