laut.de-Kritik
In jedem Briefkasten dieser Welt geht mehr die Post ab.
Review von Jakob HertlIch bin ehrlich mit euch: seit geschlagenen vier Stunden sitze ich hier im Büro und sauge mir irgendwelche Worte zu dem Album aus den Fingern. Vom Hund der Kollegin über das verstaubte Telefon und die leere Tesa-Rolle neben mir bis hin zum Muster des Teppich-Bodens ist einfach alles spannender als das, was die Chainsmokers uns hier vorgesetzt haben.
Es ist nicht mal so, dass es Hass auslösen würde. Oder Unbehagen. Oder Traurigkeit. In meinem Kopf herrscht nach dem dritten Hören einfach nur noch Leere. Zugegeben, besonders aufregend fand ich das Duo aus Produzent Alexander Pall und Sänger Andrew Taggart noch nie, angekündigt hatten sie die Platte nach zweieinhalbjähriger Pause aber folgendermaßen: "Vielen Dank, dass ihr uns Zeit gegeben habt, uns selbst, unsere Musik und unsere Liebe dafür, warum wir das tun, neu zu entdecken."
Das hatte Hoffnung gemacht, so ein Comeback kann schließlich außerordentlich gut gelingen, wie Swedish House Mafia neulich erst gezeigt haben. Aber Pustekuchen. Dabei geht "So Far So Good" sogar erträglich los mit "Riptide". 'Erträglich' allerdings nur im Kontext des restlichen Albums. Der smoothe Bass im Verse versprüht direkt amerikanische Teenie-Komödie-Vibes. Das Piano im Kygo-Style in der Bridge macht ein bisschen Spaß, der Drop klingt nach dem typischen Chainsmokers-Sound, wie wir ihn etwa aus "Closer" kennen. Der Text könnte belangloser nicht sein – ich hab mit meinen bescheidenen Mathe-Skills mal nachgerechnet: im Schnitt kommt in den 2:51 Minuten knapp alle drei Sekunden das Wort "you" vor. Bahnbrechend.
An der Hook hat übrigens Chris Martin von Coldplay mitgeschrieben. So klingt auch das ganze Album. Perfekte Beispiele liefern "iPad" oder "I Love U" – lupenreiner Soft-Pop, ungefähr so abwechslungsreich wie die Koch-Routine eines Studenten. Das ändert sich auf "Maradona". Der klingt teilweise nach Pop, teilweise nach House, mal nach Trap, mal nach Future Bass. Extrem abwechslungsreich also, so weit so gut. Aber das bringt eben nichts, wenn die Einzelteile an sich allesamt trotzdem nichts hergeben.
Die erfolgreichste Single "High" fängt an wie ein neuer Chart-Stürmer von 24kGoldn oder Machine Gun Kelly. Hip Hop entpuppt sich als die richtig Vermutung, dazu kommen ein paar Punkrock-Gitarren. Zwar kein "High"light, aber bei weitem auch nicht der schlimmste Song des Albums. So richtig kann man da eigentlich gar keinen küren, Anwärter gibt es aber mehr als genug.
"If You're Serious" oder "I Hope You Change Your Mind" beispielsweise. Da elektronische Musik (in meinen Augen sehr zu Unrecht) auf laut.de oft schlecht weg kommt, hat alles aus der Kategorie bei mir erst mal Vorschusslorbeeren. Aus diesen Lorbeeren haben die Chainsmokers in dem Fall aber offenbar einen Tee gekocht, der nach nichts schmeckt und trotzdem müde macht. Mit dem Innovationsgeist elektronischer Musik hat "So Far So Good" nämlich ganz, ganz wenig zu tun.
Vereinzelt schimmert das Potenzial heraus, etwa durch die Ambient-Einflüsse in "Cyanide" oder den Future Bass-Drop in "Something Different". Teilweise kommen sogar experimentelle Elemente vor, die richtig Spannendes andeuten. So schade, dass dann aber doch immer alles im Pop-Sumpf versinkt.
Zwei Lichtblicke scheinen am Ende der Platte durch den Sumpf ein wenig durch. Zum einen "Testing" dessen erster Drop dank fettem Bass ordentlich schiebt. Zum anderen "In Too Deep", das als Akkustik-Track mit einer schönen Gitarre überzeugt. Diese beiden Songs stehen für die zwei Sterne in dieser Review, mehr war beim besten Willen nicht drin.
Auch für die Texte nicht, diese will ich aber an der Stelle nicht groß kritisieren. Viele davon sind für die beiden Jungs sehr persönlich, zu "iPad" erzählte Taggart beispielsweise: "Wir haben diesen Song geschrieben, als ich das Gefühl hatte, niemanden zum Reden zu haben. Das Schreiben dieses Songs und der anderen auf diesem Album ist meine Gelegenheit, meine Gedanken zu ordnen. Wir sind wirklich glücklich, dass wir es in Songform machen können und dass ihr bereit seid, zuzuhören. es hat uns sehr geholfen, also danke."
Musik ist immer auch Therapie und ein Ventil für Emotionen, und die haben selbstverständlich ihre Daseinsberechtigung. Vielleicht höre ich das aus den meisten Lyrics nicht heraus, schlecht macht sie das aber natürlich pauschal nicht. Also weitermachen – ist nur nichts für mich. So kann man die Platte insgesamt wohl auch ganz passend zusammenfassen.
Die fast 34 Millionen monatlichen Hörer auf Spotify kommen nicht von irgendwo, sicher können viele Fans auch mit der neuen Platte etwas anfangen. Ich kann es nicht. Ich spiele dann doch lieber mit der leeren Tesa-Rolle. Wusstet ihr, dass die schneller rollen kann als ein Edding? Huiiiii.
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