laut.de-Kritik
Elegant, luftig, smooth - aus dem Nebenjob eines Rolling Stone.
Review von Philipp Kause"Die besten Moderatoren sind die, die man nicht merkt", sagte eine Radiokollegin mal. Für Schlagzeuger gilt wohl das Gleiche, für Charlie Watts sicher. Wenn seine posthume "Anthology" solche Jazz-Instrumentals wie "Bluebird", "Going, Going, Going, Gone" oder "Relaxing At Camarillo" präsentiert, meint man danach, vor allem ein Saxophon gehört zu haben, und ein Klavier. Dass Watts kontinuierlich sein Gretsch-Set touchiert, zeigt sich nur in wenigen Momenten wirklich deutlich. Zum Beispiel, wenn die Intro-Takte zu "Relaxing At Camarillo" 14 ein halb Mal die Hi-Hats bearbeiten, und Watts mit anderthalb Schlägen auf der Snare das Kommando gibt, dass die anderen jetzt richtig los legen können.
Drummer moderieren Musik, halten sie flüssig, geben den Takt vor. Man braucht sie ganz elementar, sie geben vielen Combos die entscheidende Couleur, doch oft merkt man das erst, wenn sie nicht mehr mitspielen. Verzichteten Bands notgedrungen auf ihren Trommler, wie die Smashing Pumpkins oder R.E.M. es beide 1997 mit Hilfe von Drum Machines riskierten, verliert auch der Rest des Spiels ganz schnell an Biss.
Jagger und Richards wissen, dass es ohne einen echten menschlichen Schlagzeuger nicht geht und verpflichteten Steve Jordan, die nächste Stones-LP mit fertig zu stellen. Ob die Lockdown-Nummer Eins "Ghost Town" wirklich die letzte Studioaufnahme mit Watts war, ist gerade unklar, denn an den Album-Arbeiten hatte er wohl schon mit begonnen, und die ersten gestreuten Infos sagen, er sei auf zwei Tracks definitiv dabei. Seine Vertretung Steve Jordan stammt aus dem John Mayer Trio (einem Blues-Ableger des Popmusikers Mayer). Und gleichwohl die anderen Stones im Blues wurzeln, entflammte beim Knirps Charlie in den 50ern der Jazz seine unstillbare Leidenschaft für Musik, und um nichts anderes und auch davon nur um einen schmalen, seltsamen Ausschnitt, geht's auf der Charlie-"Anthology".
Mit 14 erhielt der Londoner sein erstes Schlagzeug, hatten ihm die Eltern geschenkt. Zwei Kurzzeit-Drummer gab's vor ihm bei den Steinen: Tony Chapman, quasi das, was was bei den Beatles Pete Best war, und Mick Avory. Tony ließ das Musizieren jedoch schnell bleiben, und die Kinks warben Mick Avory ab. Nach dem ersten Auftritt der Stones am 12. Juli 1962, von dem nicht dokumentiert ist, wer trommelte, dauerte es nur ein paar Monate, bis Watts zur Band stieß, um am 7. Juni 1963 auf der Debüt-Single zu hören zu sein. Er blieb bis einen Monat vor seinem Tod.
Genauso wie Bassist Bill Wyman und wie auch Jagger und Richards scherte er des Öfteren in andere Bands, Seiten- und Solo-Projekte aus - somit gibt's von ihnen allen jede Menge Material. Streng genommen, begannen die Abwege bereits mit einem Joke-Jam-Album von Jagger, Wyman und Watts mit Ry Cooder und Pianist Nicky Hopkins: "Jamming With Edward!" vom April '69, erschienen Anfang 1972. In den '80ern umgab Charlie Watts sich mal mit einem Orchester. Live trat er in sperrigen Kombis auf, dazu später, und Anfang der 2000er kollaborierte er mit einem anderen wesentlichen Rock-Drummer, Jim Keltner (der für Dylan, J.J. Cale, CSNY und viele andere die Sticks schwang und wie Watts als einer der besten im Business gilt.)
So wirklich in die Tiefe zu gehen, scheut sich die "Anthology". "Relaxing" ist das ultimative Stichwort für diese oberflächliche Doppel-CD, nicht nur "At Camarillo". Sie sammelt Bebop, Cool Jazz, überwiegend recht brave Darbietungen. Sie behandelt in zweiter Linie ein bisschen Swing, und mit "Swindon Swing", "Rockhouse Boogie" und "Ain't Nobody Minding Your Store" legt sie unveröffentlichte Nummern vor, zumindest so rar, dass ich sie bei intensiver Recherche sonst nirgends finden konnte.
Von einem anderen Charlie, Charlie Parker, stammen etliche der Kompositionen, andere beziehen sich auf ihn, "Practising, Practising, Just Great", "Blackbird - White Chicks". Dass das so sehr Watts' Thema war, dass er mal eine Tribute-CD an Parker aufnahm, und sogar mit beigefügten Vocals zu den eigentlich instrumentalen Nummern, das ist eine eher unbekannte Seite an Watts. Bleibt sie auch, wenn man sich hier auf die CD und das Booklet verlässt, muss man bei Interesse googeln.
Selbst die Namen der Gruppen, also in welchen Besetzungen die Ensembles rund um Watts spielten (und wann), eliminiert diese "Anthology" weitgehend. Sie streift kurz in den Liner Notes, dass es das erwähnte Charlie Watts Jim Keltner Project und The ABCD & Boogie gab, sowie eine dänische Big Band, zu der sich Watts mal gesellte. Mit wirren Zeitsprüngen macht es einem der englische Text des Autobiographen nicht einfach - es wird mehr ausgelassen als informiert.
Dass Watts hingegen mit Howlin' Wolf jammte, in Gesellschaft von Wyman, Clapton und Steve Winwood, zu finden auf "The London Howlin' Wolf Sessions" und "Muddy & The Wolf", fehlt nicht nur im Text, sondern leider auch in der Track-Auswahl, genauso wie das eingangs genannte "Jamming With Edward!". Dann handelt es sich aber auch um keine wirkliche Anthologie. Selbst eine Erwähnung spart man sich, obwohl es der klassische Kleine-Jungs-Traum der gesamten Londoner Bluesrock-Jugend war, lebend Howlin' Wolf zu begegnen. Watts lebte seinen Traum. Da geraten Sinn und Biographiebezug der Doppel-CD aus dem Blick. Statt Watts' Vielfalt und Versiertheit darzustellen, erlebt man ihn hier sehr monochrom als Parker-Cover-Artist und Gershwin-Fan.
Vieles plätschert unterschiedslos. Ein Standard tröpfelt in den nächsten weiter. Was man sich irgendwann beim Hören fragen kann: Wieso wirkt davon nichts irgendwie ein bisschen auf Charlie zugeschnitten? - wenigstens einen Hauch frech, mutig, abgefahren, bissig, wild, sportlich, bluesig, funky oder rock'n'rollig uminterpretiert? Alles klebt den 1930ern und '40ern dicht auf den Fersen. Die Dekadenz der Zeit und ihr Gestus der Tralala-Ablenkung von Wirtschaftskrise, Weltkrieg, technologischen Fort- und humanistischen Rückschritten, Rassismus und dem Reaktionären des Zeitgeists - ein The Rolling Stone müsste doch so richtig subversiv dagegen eingestellt sein?! Und doch fällt hier nichts aus dem Rahmen der ererbten Standards, die US-Kollektivgut geworden sind. Und aus ihrer anachronistischen Bräsigkeit.
Eine Erkenntnis ist demzufolge: Dieser Stone hatte eine Sehnsucht nach Eskapismus. "Stompin' At The Savoy" bezieht sich auf das Savoy in Harlem als namhaften Ort der Swing-Ära, der schloss 1958. Das Savoy wie auch das Bläser-Piano-Stück dazu wurde(n) zum Inbegriff für das Lebensgefühl dieser leichten Unterhaltung für Herren im Smoking, Zigarren, Casino-Atmosphäre und elegante verchromte Limousinen, die vor fuhren. Nur dass es auch in solchen Stücken einen ordentlichen Trommelwirbel braucht - Charlie Watts' lebhaftester Auftritt in dieser Sammlung und wohl daher an den Anfang gestellt. Übrigens, 1986 versammelte Watts 32 Musiker*innen für eine noch opulentere Aufführung dieses Stücks, zu finden auf einem Live-Album. (Auch diese Info verschweigt das Booklet.)
Auf manchen Tracks singen irgend welche Unbekannten, jedenfalls anonymen Leute, wie in "Good Morning Heartache", und das eher schulmeisterlich schön die Kiefermuskeln dehnend wie im Musikunterricht, aber im Wesentlichen ohne Charakter. Elegant und smooth, aber eher beiläufig und geradlinig, so strömt das meiste Material vorbei. Alles sauber durchgezogen, alles in klarer, toller Klangqualität - keine Frage, keine Punktabzüge. Die Auswahl und Anordnung catchen nur einfach nicht.
Bester Cut in meinen Ohren ist der verträumte Bossa-Jazzpop "Airto" mit Solo an den Congas. In mancher Menschen Ohren wird's als nervige Warteschleifenmusik ankommen, aber wenn man Latin-Musik kennt und mag, kann man dazu gut entspannen.
Es überrascht ein bisschen, hier auf keinen Rock, Funk, Blues, Rhythm'n'Blues, auf Fusion oder Funk zu treffen. Diese Sammlung analysiert es nicht, stellt keine Verbindung zu den Stones her - schwach! Ob deren Funk-Ausflüge in den '70ern Charlies Jazz-Geschmack veränderten oder umgekehrt, ob sie nur möglich wären, weil Watts die Funk-Wurzeln des Bebop im Schlaf drauf hatte - da fehlt hier die Lust, spielerisch mit seinem Doppelleben umzugehen.
Das letzte Stones-Album liegt immerhin sieben Jahre zurück, das nächste beschreitet eine neue Ära in der Gruppengeschichte. So spannend es ist, wie "Hackney Diamonds" klingen wird, so sehr kann man eines nach dem Hören dieser "Anthology" vorab sagen: Während Jagger mit Reggae, Pop und Disco flirtete, Richards solo ebenfalls Reggae weiter verfolgte und den Blues vertiefte, ging Watts abseits der Stones nie mit musikalischen Moden, sondern verhielt sich reaktionär, konservierte altes Repertoire ohne was daran zu verändern. Dieser erdende Gegenpol wird Jagger/Richards definitiv fehlen. Mit der Chance auf modernere Sounds, mit dem Risiko zu arg auf frische Jungspunde zu machen.
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