laut.de-Kritik

Obacht! Der Genuss dieses Albums macht signifikant dümmer.

Review von

Der Planet geht vor die Hunde, das dämmert so langsam auch den vernageltsten Dumpfbacken. Im Grunde also eine nachvollziehbare Reaktion, ganz feste die Augen vor der Realität zusammenzukneifen. Is' eh schon alles egal, also hey! Konsumieren und feiern wir uns um den Restverstand, nach uns - buchstäblich - die Sintflut. Ausbaden muss es sowieso die nächste Generation. Wohlsein!

Der Titeltrack von "Zu Wahr Um Schön Zu Sein" karikiert den Typus "rücksichtsloser, nur auf seinen eigenen Vorteil bedachter Egoist", diese Sorte Mensch, die immer alles möglichst billig kriegen will und das zusammengeknauserte Geld dann ohne Sinn und Verstand auf den Kopf haut. Yay! Lass nach Dubai fliegen, oder sonstwohin, wo sich die Influencer tummeln, um mit ihrem Reichtum zu protzen. Was? Es wird immer heißer, der Meeresspiegel steigt? Scheiß doch drauf ... und im Hintergrund singen die Kinder, auf deren Zukunft gleich mit-geschissen ist, im Chor.

Man könnte meinen, hier gehe es sozial- und gesellschaftskritisch zu. Eine feine, verzweifelte Satire ließe sich aus dem Thema stricken, um es mit den 257ers zu sagen, ein Song, der zum Denken animiert, aber ... wo denken wir hin? Wir haben es immer noch mit Culcha Candela zu tun, und die wiederum haben wahrhaftig ALLES dafür getan, damit das mit dem Denken wirklich gar nicht mehr funktioniert. Platten wie diese sollten eigentlich einen Warnhinweis tragen: Obacht! Der Genuss dieses Albums macht signifikant dümmer.

Das liegt noch nicht einmal an der Musik. Klar, revolutionär klingt hier gar nichts. Mit Ausnahme des mit ranziger Lagerfeuer-Gitarre aufgebrühtem Poprock-Schmonz' von "Half So Wyld" kann man die Beats aber durchaus gebrauchen. Vorausgesetzt, man ist dem Eurodance, der allem zugrunde liegt, nicht komplett abhold. Culcha Candela pumpen immerhin noch generös Bass und eine erkleckliche Portion Dancehall in den Großraumdisco-Sound.

Alles wirkt so vertraut, als kenne man es längst. Hier ein bisschen "Coco Jambo", da etwas Sean Paul oder Pitbull, dann einmal dramatisch bis drei zählen, als wären wir bei Rammstein ... das spricht zwar nicht gerade für Originalität, wohl aber für Culcha Candelas Fähigkeit, elend eingängige und hochfunktionale Tracks zu fabrizieren. Die voluminöse 2k22-Version von "Hamma", etwa: Die hat schon mächtig Wumms. Das könnte tatsächlich zumindest kurzzeitig Spaß machen, wenn ... ja, wenn die sackdämlichen Texte nicht wären.

Im Jahr 2023 sollte eigentlich nicht mehr verwundern, dass Culcha Candela keine lyrischen Höhenflüge zu bieten haben. WIE platt, dümmlich und durchgehend unangenehm sexistisch sie sich hier aber präsentieren, erschüttert dann aber doch ein bisschen. Die Lyrics auf "Zu Wahr Um Schön Zu Sein" bestehen nahezu ausschließlich aus Phrasen, krampfigen Wortspielen und billigen Anmachsprüchen, wobei letztere den Löwenanteil ausmachen.

"Baby, du siehst gut aus, verrat' mir deinen Namen, komm und lass' uns bisschen Zeit verbringen", "Gib mir deine Nummer, ich hab' meine verloren", ich meine, BITTE, hat derlei schon jemals funktioniert?

"Ey, wer weiß schon, wie viel Zeit uns noch bleibt, vielleicht ist morgen wirklich alles vorbei." Ja. Welche Frau wollte nicht ihre möglicherweise letzten Stunden in der Gesellschaft eines Typen verbringen, der am Rand der Tanzfläche steht, Stielaugen kriegt und schier sabbernd die Optik und die Moves der dort tanzenden Mädels kommentiert? Ein Träumchen. "Warum bist du nicht geblieben?" Ich hab' da so eine Idee.

Es wird nicht viel besser, wenn die Texte ins Spanische kippen. Man muss der Sprache noch nicht einmal mächtig sein, um die Floskelhaftigkeit von Lines wie "Oy, chica, viva la vida!" zu erahnen. Jaja, "bailando, bailando", is' klar, "du machst mich loco, tù eres mi droga". ¡Ayuda!

Hilfe ist allerdings nicht in Sicht. Track um Track ziehen Culcha Candela diese peinliche, verzweifelte Bummsdisko-Masche durch, dann folgt der Titeltrack und tut verlogen so, als sei darin irgendeine subtile Kritik an der rücksichtslosen Zugrunderichtung des Planeten verborgen, oder wenigstens Ironie, verpackt in eine Billoplastik-Zirkusmelodie, nur um im Anschluss nahtlos wieder zurück zu Dorfmädchen-Großstadtjunge-Klischees zu schwenken. Klaro! Wir Landpomeranzen fahren alle mit Fuchsschwänzen dekorierte Mofas und warten sehnsüchtig auf die Ankunft des Märchenprinzen aus der City, was denn sonst?!

Alter, es ist einfach so dumm, ich spüre, wie ich von Minute zu Minute dämlicher werde, wie die Neuronen leise kollektiven Suizid begehen und das Hirn mit den Gletschern um die Wette schmilzt, und DANN lausche ich diesem poetischen Erguss:

"Der Bauarbeiter baggert wie blöde, die Tierärztin ist gut zu vögeln."

"Das kann nicht Warzenschwein."

Nä, jetzt reichts.
Guten Tacho.
Auf Wiederhörnchen.

Trackliste

  1. 1. Nachts Um Vier
  2. 2. Hamma! 2k22
  3. 3. Sonnenbrille
  4. 4. Numma
  5. 5. Half So Wyld
  6. 6. Warum Immer Ich
  7. 7. Zu Wahr Um Schön Zu Sein
  8. 8. Mit 25 Durch Die Nacht
  9. 9. Wenn Sie Tanzt
  10. 10. Das ganze Leben Ist Ein Club

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17 Kommentare mit 21 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Die kennen halt ihr Publikum. Das sieht man allein am Albumtitel, "Zu wahr um schön zu sein" ist halt einer dieser abgewandelten Sprüche auf die Leute kommen, die nicht wirklich kreativ sind und es je sein mussten, aber sich voll schlau fühlen, wenn sie ihn selbst entdecken.

    Es gab mal so eine CD-Reihe unter dem Titel "Ich mag keinen Jazz, aber das gefällt mir!" Die Lieder von denen kann man auch in eine ähnliche Reihe integrieren, nämlich "Ich mag keine Musik, aber das gefällt mir!"

    Nächstes Album heißt dann bestimmt "Schankedön", und die Deluxe-Edition enthält die "Schittebön"-EP.

  • Vor einem Jahr

    Ok, ich hab reingehört und fühl mich wirklich dümmer als zuvor. Was in der Rezi steht stimmt zu 100%. Weiß nicht wie lang es braucht bis ich mich davon erhole

  • Vor einem Jahr

    Musik für Wandtattoobesitzer.