laut.de-Kritik
"Reality" bites!
Review von Michael SchuhDavid Bowie besinnt sich auf alte Stärken, jubilierten Fans und Kritiker im vergangenen Jahr, als der Brite mit seinem Album "Heathen" scheinbar mühelos einen Bogen zu den großen Kompositionen seiner Frühzeit spannte. Auf den anschließenden Konzerten setzte er diese lang ersehnte Affirmation in die Tat um und integrierte betörende Songs wie etwa "Life On Mars" wieder in sein Live-Programm. Betörend und überwältigend ist auch David Bowies neues Album "Reality", selbst wenn der Mann mittlerweile nicht mehr auf dem roten Planeten lebt, sondern in New York.
Die neuen Songs sind seine ersten seit dem 11. September 2001, da der Songwriting-Prozess bei "Heathen" bereits vor der Tragödie abgeschlossen war. Musikalisch äußert sich dies in einem weit rockigeren Ansatz. Nicht mehr atmosphärisch oder elektronisch schwermütig, sondern sehr direkt, unprätentiös und in sich abgeschlossen klingen die Songs auf "Reality". Statt auf Gaststars wie Air, Dave Grohl oder Pete Townshend, die ihm damals zur Seite standen, setzt Bowie dieses Mal bewusst auf seine eigene Band.
Was zählt ist das alte Prinzip: "Wir gegen den Rest der Welt", eine Einstellung, die zum außenpolitischen Verständnis seiner neuen Heimat durchaus Bezug nimmt. "Ich sehe eine große, weiße Wunde über dem Battery Park" sind Bowies Begrüßungsworte auf der grandiosen Single "New Killer Star", und ist sein Vermächtnis an "die Ecken der Gebäude, die Bürgersteige und Bäume" des veränderten Downtown Manhattan, das auch sein Zuhause geworden ist.
Er nimmt zwar nicht politisch Stellung, haucht seinen Protagonisten aber die selbst erlebten Eindrücke ein, lässt sie durch sein New York wandern, "north along Riverside" oder "south along the Hudson". In "Looking For Water" wird er dann nochmal konkret: "I lost God in a New York minute." Doch Bowie ist nicht wehleidig, seine Texte sind eher optimistischer Natur, was nach eigenen Aussagen vor allem mit der Geburt seiner Tochter zusammen hängt. Die Welt schlecht zu reden ist seine Sache deshalb nicht, lieber sucht er nach Wegen, mit der Gegenwart umzugehen ("Looking For Water").
Musikalisch enttäuscht mit dem Titeltrack ausgerechnet das lauteste Stück und auch aus George Harrisons "Try Some, Buy Some" konnte (oder wollte) Bowie die opulenten bis kitschigen Arrangements leider nicht entfernen. Dagegen kreischt er das von Jonathan Richman im Original knorrig minimalistische "Pablo Picasso" in einen völlig neuen Song, während er im potenziellen Klassiker "Never Get Old" mit zahlreichen Klischees um seine Person ironisch aufräumt.
Zum Abschluss kredenzt er uns mit "Bring Me The Disco King" seine Vorstellung einer jazzigen Klavier-Improvisation, das der in ihm zehrenden Ambivalenz zwischen Trauer und Hoffnung für sein New York ein musikalisches Denkmal setzt. Wenn "Low" sein Berlin-Album war, hat David Bowie nun nach Lou Reed ein echtes New York-Album veröffentlicht. Und eines ist sicher: "Reality" bites!
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