laut.de-Kritik

Wie ein Buchhalter, der von seiner wilden Jugend erzählt.

Review von

Ende der 1980er hatte der Schulhof die ollen Kamellen satt. Wir hatten genug von den Golden Oldies, den Rolling Stones und Fleetwood Mac. Der Musik der Vergangenheit, die das Radio zustopfte. Genug von den alten faltigen Männern, die mit den ewig gleichen Songs über die Bühnen dieser Welt hopsten. Wir wollten unsere eigene Band, die unsere Generation zusammen hält.

Spätestens seit der Zusammenarbeit mit Anton Corbijn war klar, dass die Antwort auf unsere Suche nur Depeche Mode sein konnte. Refrainlastig genug, um bei den Poppern zu landen und dunkel genug, um auch The Cure-Fans anzusprechen. In den Armen von Dave, Martin, Alan und dem anderen Kerl, der sich immer auf die Fotos drängelt, fanden wir zusammen.

2020 sind Depeche Mode längst selbst zu den Rolling Stones ihrer Generation geworden. Entwickelten sie sich einst von Album zu Album weiter und suchten neue Wege, verschwimmen sie mittlerweile zusehends. Mit "Exciter" liegt ihr letztes frisches und spannendes, aber von vielen Fans ungeliebtes Werk nun bereits fast zwanzig Jahre zurück. Mit "Playing The Angel" ruderte man schnell zurück und einigte sich bandintern darauf, dass dies nun für jetzt und alle Ewigkeit der Depeche Mode-Sound sein soll.

Bei den Songs, die danach kamen, spielt es keine Rolle mehr, auf welchem der letzten vier Longplayer sie sich befinden. Lediglich die Qualität des Songwritings ließ immer weiter nach, bis wir mit dem lustlosen "Spirit" 2017 den bisherigen Tiefpunkt erreichten. Selbst die Cover-Artworks verkommen zu einer einzigen gleichförmigen Pampe - siehe "Live In Berlin" und "Live Spirits".

Der Kreativitätsflucht entgegen steht eine zunehmende Zahl an Best Ofs, Wiederveröffentlichungen, Filmen und Live-Mitschnitten. War "101" als eines der ersten Synth Pop-Livealben noch etwas Besonderes, folgt nun mittlerweile auf jeden neuen Release eine weitere Konzertaufnahme. Wieder mit "Never Let Me Down Again", wieder mit "Enjoy The Silence", wieder mit "Everything Counts". Diesmal gibt es mit "Live Spirits" den schon wieder in Berlin aufgenommenen Soundtrack zum "Spirits In The Forest"-Film.

Depeche Mode sind längst zu einem Kult verkommen und ähnlich mit Traditionen vollgestopft wie die katholische Kirche. Dabei hängen sie an ihren Gewohnheiten so fest, dass kaum noch Platz für Abweichungen und erst recht nicht für Innovationen bleibt. Natürlich singen alle zusammen minutenlang den Refrain von "Everything Counts", und zum Schluss gibt es "Just Can't Get Enough". Dass dieser naive Kindergarten-Pop schon sehr lange nicht mehr zum restlichen Programm passt, spielt dabei keine Rolle. Das war schon immer so und alles was schon immer so war, ist gut.

Bezeichnend dabei das Vertrauen, das die Engländer in ihre letzten Alben setzen. Gerade einmal vier Songs vom aktuellen "Spirit" schafften es in die Setlist. Auf der nächsten Tour werden auch diese verschwunden sein. "Sounds Of The Universe" und "Delta Machine" finden bereits nicht mehr statt. Dazu kommen noch zwei "Playing The Angel"-Stücke. Der Rest stammt aus dem letzten Jahrtausend.

Mit dem am Klavier vorgetragenen "I Want You Now" von "Music For The Masses" wartet zumindest eine kleine Überraschung. Gegen das Covern von David Bowies "Heroes" sollte es hingegen ein Gesetz geben. Die Depeche Mode-Version fügt dem Original jedenfalls nichts Neues hinzu.

Das Ärgernis "Where's The Revolution" bleibt in seiner politischen Aussage weiterhin so vage, dass es sich wirklich jeder auf die Fahne schreiben kann. Es spielt keine Rolle, ob du nun links oder rechts bist, zu den Verschwörungstheoretikern zählst oder einfach keinen Koriander magst, nahezu jeder kann sich darin wieder finden. Dabei haben wir noch nicht darüber gesprochen, dass dieser missratene und arg blauäugige Aufruf zur Revolution musikalisch zu den langweiligsten DM-Liedern der letzten zwanzig Jahre zählt.

Wann hat eigentlich jemand Dave Gahan gesagt, er sei ein toller Blues-Sänger? Und viel wichtiger: Warum hat Gahan der Person geglaubt? Früher setzte er seine überschaubare Range mit großer Kühle perfekt in Szene und holte das Beste heraus. Heute hält er sich Jahr für Jahr mehr für den großen Prediger. Eine Aufgesetztheit, die zunehmend anstrengt.

"A Pain That I'm Used To" bekommt das wohl auffälligste Neu-Arrangement verpasst, das dem Track aber nicht so recht passen mag. Zu den energiegeladensten und gelungensten Momenten zählt hingegen – trotz Schlagzeugsolo - der ausgedehnte Funk-Jam am Ende von "Enjoy The Silence".

Technisch gibt es eh nur wenig an "Live Spirits" auszusetzen. Viel mehr ist es die allgegenwärtige Routine, die dem Album im Wege steht. Die in ihrem Job festgefahrenen Depeche Mode klingen wie ein Buchhalter, der auf der Arbeit noch einmal von seiner wilden Jugend erzählt. Es bleibt ein nettes Erinnerungsstück für alle jene, die am 23. und 25. Juli 2018 in der Berliner Waldbühne dabei waren. Mehr nicht.

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. Going Backwards
  3. 3. It's No Good
  4. 4. A Pain That I'm Used To
  5. 5. Useless
  6. 6. Precious
  7. 7. World In My Eyes
  8. 8. Cover Me
  9. 9. The Things You Said
  10. 10. Insight
  11. 11. Poison Heart
  12. 12. Where's The Revolution
  13. 13. Everything Counts
  14. 14. Stripped
  15. 15. Enjoy The Silence
  16. 16. Never Let Me Down Again
  17. 17. I Want You Now
  18. 18. Heroes
  19. 19. Walking In My Shoes
  20. 20. Personal Jesus
  21. 21. Just Can't Get Enough

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Depeche Mode

"To go from nothing to that in seven years was amazing". Bis heute denkt Labelboss Daniel Miller gerne an den Tag zurück, an dem Depeche Mode, die er …

16 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    WassenanBuchhalternjetztsoschlimm?
    KönnendiekeinewildeJugendgehabthaben?

  • Vor 4 Jahren

    Würdige Demontage, ich erwarte nichts mehr von denen.
    Für mich war sogar Ultra das letzte erwähnenswerte.

  • Vor 4 Jahren

    Nach Exciter war echt schluss.. aber aus den letzten 4 Alben und B-Seiten könnte man def. noch ein nettes 12 Track Album basteln. ^^

    Hab mir die Livetracks mal angehört. Der Mix ist echt nicht schön, Gahan krächzt sich mehr oder weniger durch die Songs und was am Ende von "Stripped" passiert geht halt garnicht..

    Zum Cover.. Sogar Corbijn sieht nur noch "grau" für die Band. xD

    • Vor 4 Jahren

      Stimmt. Gore klingt bei "Stripped", als würde er sich nebenbei die Fußnägel schneiden.

    • Vor 4 Jahren

      Sehr schade eigentlich. Gore hatte in meinen Augen immer die viel bessere Stimme als Gahan. In seinen besten Momenten hatte er was von Elliott Smith. Wurscht. Ähnlich wie bei Queen kann man sich die Band fast nur als Best-Of-Compilation geben.

    • Vor 4 Jahren

      @SK, yeah,.. oder als ob irgendwas im Studio an seiner Spur gestretched oder verschoben wurde.. - Hätte zumindest vieles nicht durch ne QA kommen dürfen.

      Ich mag so ziemlich alle offiziellen Live Sachen bis 1997.. auch wenn da im Studio viel dran rumgebastelt wurde. Aber soll ja auch nur den Eindruck von Live-Atmosphäre erwecken, imho.

      SOWAS hier bringt halt Niemandem was. Auch wenn's die erste "richtige" Live Version von Useless beinhaltet.. Meh.

      @Ragism, jup,.. meine Auto/iPod "Best Of" besteht meist aus den Singles Collections + paar coole Songs ala Dream On & I Am You ^^

  • Vor 4 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 4 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 4 Jahren

    Depeche Mode. Ja, das war eine Institution. Die Alben bis incl. Ultra waren durchweg stark. Mehrere Songs gingen direkt ins Ohr und Bein. Und blieben da.
    Dann kam Exciter. Hier merkte man die Filler am ehesten, weil man das nicht kannte bisher. Dream On war noch ganz gut, dann Shine gut, der nächste guet Freelove und der Rest verbleibt ohne Erinnerung.
    Playing the Angel fängt auch wieder ganz gut an, dann der erste Filler, dann kommen mit Precious und Suffer Well die beiden Monster. Der Rest wieder vergessen.
    Sounds of the Universe hat es dann geschafft mit In Chains ne Gurke zu Beginn aufzufahren. Nervt. Wrong ist der Song auf dem Album, der ins Ohr geht- ohne gut zu sein. Der Rest ist viel Geblubber und geknarkse.
    Delta Machine ist wieder etwas besser, also vor allem die ersten Songs. Der Grundsound des Openers zieht sich durchs ganze Album. Eher düster, eher reduziert. Wieder bessere Songs ohne dabei ein gutes Album zu sein.
    Spirit ist dann die Belanglosigkeit durch und durch- warum sollte man sich das anhören, wenn die Streaming Dienste voll mit Musik sind?
    Im Nachhinein muss man dann doch sich eingestehen, die Ideen, Sounds und die Mitarbeit von Alan Wilder waren vielleicht doch wichtiger als man damals, als er ausschied, dachte.

  • Vor 4 Jahren

    Hat zwar etwas von Verschwörungstheorie, aber ist euch mal aufgefallen, dass das Songwriting genau seitdem schlecht wurde als Martin aus dem drögen England ins sonnige Santa Barbara gezogen ist und sich seine Zähne hat richten lassen? Wenn da kein Zusammenhang besteht, fress ich nen Besen!