laut.de-Kritik
Tiefgründige Texte, musikalisch düster in Szene gesetzt.
Review von Toni HennigTom Schilling ist für seine Filmrollen in "Crazy", "Napola - Elite für den Führer" oder "Lara" bekannt. Weniger bekannt ist, dass er seit einiger Zeit auch als Frontmann mehrerer Bandprojekte eine gute Figur macht.
Er gehörte einer Jazz-Formation namens The Major Minors an, mit denen er ein Großteil des Scores von "Oh Boy" schrieb, wo er auch die Hauptrolle spielte. Während der Dreharbeiten zum Film freundete er sich mit weiteren Musikern an, die sich der Truppe anschlossen und später auch Teil von Tom Schilling & Jazz Kids waren. Die spielten 2017 auf "Vilnius" gar keinen Jazz, sondern eher existenziellere Musik irgendwo zwischen dem frühen Sound Element Of Crimes, Brecht und Weill sowie der dunklen Balladenkunst Nick Caves, zugleich Schillings Vorbild. Nun meldet sich der Berliner mit Die Andere Seite und dem Album "Epithymia" in nahezu identischer Besetzung zurück.
Schon der zwischen Rammstein-Pathos und Gewaltausbrüchen der Marke Swans pendelnde Opener "Das Lied Vom Ich" verdeutlicht unmissverständlich, dass Schilling der Schwermut weiterhin treu bleibt, wenn er zuerst flüsternd, dann klagend und schreiend in den seelischen "Abgrund" führt, was von der Stimmführung her an Tilo Wolff von Lacrimosa denken lässt. Dennoch lockt der Track mit seiner schwülstigen Dramaturgie auf die falsche Fährte. Die Platte klingt nämlich trotz ihrer ungemein düsteren Ausrichtung überaus abwechslungsreich und nicht ganz so pathetisch bedeutungsschwer, wie man beim Hören dieser Nummer vermuten könnte.
Bereits im zweiten Stück "Aljoscha" schlagen Die Andere Seite ruhigere Töne an, wenn Schilling zu folkigen Akustikgitarrenklängen und melancholischen Pianoeinsprengseln die Geschichte eines unerwünschten und ungeliebten Kindes erzählt, das sich entschließt, zu "gehen, um zu fehlen". Das Thema findet mit der "Ballade Vom Eisenofen" am Ende eine aufwühlende Fortsetzung, die tieftrauriger kaum sein könnte. "Ich reg' mich nicht, beweg' mich nicht, es gab mich nicht", lautet das erschütternde Fazit zum Schluss.
Nach "Aljoscha" kristallisiert sich in "Bitter Und Süß" das Motiv der "Sehnsucht" angesichts des Todes als "Begleiter im Rausch" heraus, das wie ein roter Faden das Werk zusammenhält. Dazu klingen die kargen Gitarrentöne, die an eine schäbige Bar führen, und die entschleunigten Schlagzeugklänge wie aus einem Madrugada-Song entsprungen. Zum Schluss wagt Schilling die große existenzielle Post-Punk-Geste, wenn es heißt: "Am Ende sitze ich auf dem Asphalt, die Sonne brennt und mir ist kalt, im Paradies."
Am besten wirken allerdings seine Texte, wenn er die unerfüllte Liebe besingt. Im Grunde genommen fallen einen hierzulande lediglich die frühen Veröffentlichungen der Alin Coen Band ein, wenn man eine vergleichbare Sichtweise auf das Thema sucht. In "Heller Schein" geht es als Hommage an Franz Schubert zu stolpernden Drum- und spröden Saitensounds darum, jemanden "ewig nur nah in der Ferne" zu sein, aus Furcht, den anderen zu "verlieren". Den suchtartigen Aspekt einer solchen Beziehung thematisiert der Berliner in "Die Königin". Dort wartet zu melancholisch schwelgerischer Gitarre das schwarze, verführerische "Gift", von dem man sich nur schwer lösen kann.
Dazwischen begibt sich Schilling getrieben von Todessehnsucht und um seine eigene Vergänglichkeit wissend in "Die Weide" zu angejazzt balladigen Tönen auf die Suche nach inneren Frieden, und in "Gera" besingt er zu Klängen, mit denen sich die Band vor The Velvet Undergrounds "Venus In Furs" verneigt, die gleichnamige, "einst" stolze "Stadt", deren "alter Glanz in Scherben" liegt, wenn man seinen dunklen Worten Glauben schenken mag. Gegen Ende spielt er dann lyrisch in "Als Wär's Das Letzte Mal" auf DAF an.
Und dann wäre da noch "Ins Nichts", wo die Band Kritik an der Kälte und der Selbstoptimierung in unserer Gesellschaft in ein schaurig schönes Soundgewand einhüllt, das mit nahezu körperlichen Noise-Ausbrüchen und dunkelromantischem Piano an die skandinivischen Düsterheimer von Årabrot erinnert. Letzten Endes lernt man mit jedem Song eine andere Facette von Tom Schilling kennen. Je mehr man sich auf die schweren Klänge und die tiefgründigen Texte einlässt, umso mehr wächst einem "Epithymia" ans Herz.
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