laut.de-Kritik

Die deutsche Singer/Songwriter-Platte des Jahres.

Review von

Zwei Poeten fürs Songwriting und zwei Alleskönner fürs Arrangement: Franesco Wilking (Tele), Moritz Krämer, Felix Weigt (Kid Kopphausen, Spaceman Spiff) und Max Schröder (Tomte, Olli Schulz, Leslie Clio) halten alles, was die "Unzufrieden"-EP versprach und liefern wie erhofft die Singer/Songwriter-Platte des Jahres ab. Kurzum: Nach der perfekten Überbrückung muss nicht länger suchen, wer Gisbert zu Knyphausen vermisst.

So einfach hätte es gehen können. Doch es kam alles ganz anders. Weil Die Höchste Eisenbahn für ihr Langspieldebüt lieber den ganz großen Umweg nahm, laut Tapete Records ein Jahr länger brauchte als gedacht - und nun einen bunten Pop-Blumenstrauß mit jeder Menge Achtziger-Synthies und einer bewussten aber üppigen Dosis Trash-Ästhetik bereithält.

Gleich der Opener "Egal Wohin" zerrt mit unwiderstehlichem Groove und erstaunlicher Schrägheit auf die Tanzfläche. Francesco führt einen Dialog mit entrückten Roboterstimmen, auf die Frage "Warum so rüde?" fällt ihm einiges ein: "Weil ich wütend bin, weil ihr überall seid, wo ich hingehen will, mit euren Traumreisen, euren Geldversprechen, eurem schneeweißen Smartphone-Lächeln." Dass die Eisenbahn auch keine Berührungsängste vor Toto und Konsorten kennt, legt wenige Sekunden später der Pre-Chorus samt Saxophon-Einwürfen nahe.

Doch das Vergnügen vergeht selbst dann nicht, wenn das Stilmittel der völligen Überzeichnung in der Produktion zwar wegfällt, dafür aber bei den Lyrics wieder auftaucht. So etwa in Wilkings hemmungslos überzuckerten Romanze "Isi", die in folgender Szene gipfelt: "Und die Leute schrien: Los, Robert / Tu, was du tun musst / Und er sprang die fahrende Bahn an, schlug die Scheibe ein und gab Isi einen Kuss."

Andererseits beschwört "Schau In Den Lauf Hase" auch etliche jener Gefühle, die einen zuletzt so sehr an Moritz Krämers Debüt "Wir Können Nix Dafür" fesselten. Etwa wenn er einem Haufen "Aliens" auf beschwingte Art versucht, die Welt zu erklären. Oder wenn er "Mira" seine Angst vorm gemeinsamen Haus am See erklärt: "Ein Teil sagt: Bleib hier, du bist noch nicht so weit / Eine Stimme sagt: Rechts abbiegen, Sie haben Ihr Ziel erreicht."

Um einen ähnlichen Konflikt spinnt Krämer auch das bewegende "Raus Aufs Land", ursprünglich eines der ersten Lebenszeichen der Eisenbahn, das die Band nun mit einem hinreißenden Arrangement krönt. "Ist das das was du immer wolltest? / Das, was dir immer so stank / in unserer Zweizimmerwohnung? / Meintest du das mit raus aufs Land?"

Die stimmungsvolle Kinderchor-Single "Was Machst Du Dann", die sachte Wilking-Ballade "Blaue Augen" und "Allen Gefallen", ein gelungener Spagat zwischen Krämers sentimentalem Habitus und schwungvollem Tanz-Beat: Das ersehnte Eisenbahn-Debüt riskiert vieles und erfreut ohne Ausnahme.

Dabei mutet der Gesamteindruck an, als hätte das Quartett in der Unbekümmertheit einer Newcomerband eine Plattensammlung durchwühlt - und anschließend dennoch sämtliche Leidenschaft und Erfahrung investiert, um der Anhängerschaft ein Album ohne jeglichen Anflug von Belanglosigkeit zu bescheren. Kaum einem Vertreter des Genres gelang das in den letzten Jahren derart formidabel.

Und obwohl Wilking das Spiel mit dem Kitschfeuer bereits mit seiner Stammband Tele ("Wovon Sollen Wir Leben?") spielte: "Schau In Den Lauf Hase" überrascht und stößt diejenigen möglicherweise vor den Kopf, die sich kammermusikalische Liedermacherkost und Lagerfeuerromantik erhofften. Die Lücke der Knyphausen-Kreativpause schließen Krämer, Wilking, Weigt und Schröder aber trotz allem mit links. Danke dafür.

Trackliste

  1. 1. Egal Wohin
  2. 2. Body & Soul
  3. 3. Aliens
  4. 4. Isi
  5. 5. Schau In Den Lauf Hase
  6. 6. Raus Aufs Land
  7. 7. Pullover
  8. 8. Was Machst Du Dann
  9. 9. Alle Gehen
  10. 10. Blaue Augen
  11. 11. Allen Gefallen
  12. 12. Mira
  13. 13. Die Uhren Am Hauptbahnhof

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8 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 10 Jahren

    So, habs jetzt endlich gekauft. Hat meine Erwartungen noch übertroffen, was die da für eine Mischung abfeuern ist irre. Von Disco und Afrobeat, 70's Pop über klassische Balladen, alles da. Und dann die Texte. Da kann ich nur den Hut ziehen.

  • Vor 10 Jahren

    Ausgesprochen feines Album. Musikalische Vielfalt trifft auf lyrischen Individualismus. Was die Jungs da eben mal so aus dem Ärmel schütteln, verdient schon einigen Respekt.
    Gruß
    Skywise

  • Vor 10 Jahren

    Hab' die vier abartig begabten, absurd gutaussehenden und tres tres charmanten Herren gerade in der Centralstation in Darmstadt erleben dürfen...
    Die Weichen in eine bessere Zukunft sind gestellt!
    Wurde ja auch...Zeit.