laut.de-Kritik
"Hätte, hätte, Blockchain-Kette".
Review von Christian KollaschWie begegnet man den Wirren des heutigen Weltgeschehens am besten? Die Türen finden mit "Kapitalismus Blues Band" ihre Antwort darauf in einem ebenso wilden Mix aus krautrockigen Klangsphären, psychedelischen Intermezzi und pulsierendem Punk. Die Genre-Wundertüte aus Berlin, die mit ihrem sechsten Studioalbum das zwanzigjährige Jubiläum des eigenen Labels Staatsakt mitfeiert, bleibt hier mit Retro-Sounds hochaktuell. Ob Klimakrise, Kryptoblase oder Hass in sozialen Netzwerken: Die Türen kommentieren den Puls der Zeit mit Verneigungen vor den Siebzigern.
Zum ersten Rundumschlag setzt die Single "Gut Für Mich, Schlecht Für Die Welt" an, in der die Band um Sänger Maurice Summen den zappeligen Groove mit Synthie-Akzenten garniert, um ihn im Refrain mit der Gitarre schonungslos zu zersägen. "Milliarden ist das neue Millionen / Ich befürchte, uns gehen bald die Nullen aus". Raffgier und Egoismus transportiert Summen hier so lakonisch, dass Parallelen zu Deichkind aufkommen. "Leider Geil". Dass die Party längst vorbei ist, unterstreicht das treibende Post-Punk-Perpetuum-mobile "Grunewald Is Burning". Hier schunkelt keiner mehr zur Holzauktion, Die Türen tanzen stattdessen mit quietschvergnügter Gitarre und Devo-Querverweisen auf der verbrannten Erde.
Der Aufruf von Nachrichtenseiten fühlt sich momentan eben oft wie ein schlechter Trip an, den Die Türen mit "Zu Viel Los Gerade" passend vertonen. Dissonante Manie trifft hier auf verzweifelte Mantras. Entweder war da zu viel THC im Kraut, oder der Mensch funktioniert nicht so optimal im ständigen Krisenmodus. Ein gern genommener Ausweg bleibt immer noch die Realitätsflucht durch Eskalation: "Heute mach' ich mir mal überhaupt keine Gedanken / Weekend ohne Kids, dafür synthetische Substanzen", heißt das Kredo in "Party Game". Ein hypnotisierender Can-Rhythmus vertreibt zusammen mit wabernden Riffs die bösen Geister des Alltags. Zumindest so lange, bis der unausweichliche Downer am Sonntag einsetzt.
Bis hierhin richtet sich "Kapitalismus Blues Band" oft an den jungen Mittelstand, der von Krise zu Krise schlittert und vor den Grenzen der eigenen Wohlstandssicherung steht. Was soll denn jetzt noch helfen? "Hätte, hätte, Blockchain-Kette", frotzeln Die Türen im psychedelischen Acid-Trip "Lost In Invest". Auch der Traum vom Eigenheim kommt im überzuckerten "Tiny House" auch nur wie ebendieser herüber: ein feuchter Traum von kuscheliger Selbstversorgung, der am Ende wie die Kryptoblase platzt.
Musikalisch spielen Die Türen ihre Karten auf diesem Album voll aus, was "Alte Sorte" als mitreißender Hybrid von Post-Punk und Neue Deutsche Welle untermauert. Der Song klingt so, als hätte Hubert Kah ein Gastspiel bei The Fall hingelegt. Diese krude Mischung entwickelt sich auf dem Track zu einer unaufhaltsamen Triebfeder. Auf "Kapitalismus Blues Band" halten Die Türen unserer heutigen Gesellschaft mit gekonnt nüchternem Wortwitz den Spiegel vor, während ihre Sounds als klangliche Querschläger durch etliche Subgenres der Vergangenheit prallen. Was für ein Heidenspaß, könnte man meinen, wenn dort nicht so viele traurige Wahrheiten drinstecken würden.
3 Kommentare mit einer Antwort
Ich finds super. Die Türen sind der Beweis, dass Krautrock und Postpunk immer noch extrem viel Freude machen kann. Ihre Texte sind - wie in der rezi geschrieben - gewieft und gleichzeitig wahnsinnig einfach verständlich, haben enorme Schlagkraft und dienen als ausgezeichneter Counterpart zum ausgeklügelten Sound. Fands echt cool: https://youtu.be/OjqC9so8fS8
Ohne permanente staatliche Förderung wäre Maurice Summen nur ein Hobbymusiker mit zu viel Tagesfreizeit
Unabhängig des immanenten Grades an Wahrheit in deinem Post bekommst Du gleich die nächsten 26 Tage Urlaub abseits der Kommentarspalten gebucht, wenn du jetzt nicht aufpasst. So ein frecher, in 2023 unverblümt leistungsorientierter Schlingel!
Schwer basierte Inhalte an der Stelle