laut.de-Kritik
Kyos Musik gewordener Albtraum.
Review von Manuel Berger"Unberechenbar" ist ein Term, der in nahezu jedem Gespräch über Kyo und Dir En Grey auftaucht. Mit welcher Konstanz die Japaner seit Jahren verstören, verzaubern, anwidern und faszinieren, ist schon beeindruckend.
Ich persönlich konnte mit früheren Releases eher wenig bis gar nichts anfangen. Was vor allem an Kyos scheinbar willkürlichen Wechseln zwischen schiefen Arien, grässlichem Quieken, abstoßendem Röcheln und allerhand weiteren unangenehmen Geräuschen lag. In letzter Zeit wandelte sich das Bild hin zu teilweise doch wesentlich zugänglicheren, geordneteren Strukturen, was mir zumindest bis zu einem gewissen Grad deutlich erträglicher schien.
"Arche" ist irgendwie eine Mischung aus beidem. Kyo dominiert Dir En Grey natürlich nach wie vor mit seiner Vokalperfomance und ist zweifellos ein aufsehenerregendes Alleinstellungsmerkmal. Die Riffs sind immer noch die gleiche Standardware wie sie Nu-, New- und Core-Metal-Kapellen seit Jahren produzieren.
Trotz teilweise weiterhin nervendem Kreisch-, Jaul- und Grunz- und Opernterror bauen Dir En Grey mit "Arche" ein massives, verschachteltes Gebilde zusammen. Dessen Einzelteile sind zwar für sich gesehen vernachlässigbar, im Verbund jedoch stark. Über knapp 70 Minuten entwickelt sich so ein nervenzehrendes Psychospektakel.
Die Tracks tragen geschlossen bei zu einer vielschichtigen Gesamtatmosphäre. Dir En Grey kreieren ihre eigene (Alb-)Traumwelt. Dort gibt es keine feststehenden Gebäude, nur eine Vielzahl an Räumen, untereinander verbunden durch einen launischen, dunklen Ozean. Die Zimmer bieten teilweise Geborgenheit, bevor ein unbekannter Drang den Insassen wieder hinaus zerrt ("Phenomenon"). Manchmal schlagen Türen ohne Vorwarnung zu, die See bäumt sich auf, gestaltlose Gewitter brechen los. Im nächsten Moment zündet Kyo eine Kerze an und wischt dir den Schweiß von der Stirn ("Tousei").
"Arche" ist im Grunde wirklich alles – außer entspannend. Wähnt man sich gerade in Sicherheit, hackt rücksichtsloses Geprügel á la "Midwife" den Glauben daran binnen Augenblicken kurz und klein. Der Track ist übrigens eine recht gute Zusammenfassung von Kyos stimmlicher Varianz. Ruhige Cleanpassagen wandeln sich zu ultratiefen Growls, im letzten Abschnitt reißt sich der Sänger die ohnehin schon lädierter Stimmbänder mit einer Rasierklinge auf. Das tut schon beim Zuhören weh, erfüllt aber seinen Zweck.
"Magayasou" setzt den starken Mittelteil, mit dem sowohl Anfang als auch besonders der Schluss der Platte leider nicht mithalten können, fort. Neben Kyos Qualen prägt vor allem der Bass den Song. Anspieltipp. Ebenso "Rinkaku", das mit seiner coolen Kombi aus Akustikpattern und melodiösem Experimentalsolo überzeugt.
Wie eigentlich bei allen Dir En Grey-Alben gilt also: Kyo ist Fluch und Segen zugleich. Die Instrumentalfraktion ist zwar durchaus versiert, trägt ihren Teil zur Atmosphäre bei und hat einige nette Grooves und Melodien zu bieten. Vom Hocker haut sie damit heutzutage allerdings niemanden mehr. "Arche" steht und fällt mit dem Frontmann. Mag man Kyo – sprich, ist man Fan – liebt man "Arche". Kann man Kyos exzentrische Vorstellung nicht leiden, landet "Arche" höchstwahrscheinlich schon nach den ersten Eindrücken in hohem Bogen in der Müllpresse. Aber was ist nochmal das Schöne an Musikgeschmack? Genau: er ist subjektiv.
3 Kommentare mit einer Antwort
Ich war anfangs nicht so sehr von ARCHE angetan, vor allem weil ich DUM SPIRO SPERO so sehr wegen der Proglastigkeit mochte. Hier ist nun alles ein wenig simpler gehalten. Nach mehrmaligen Hören merkt man aber, dass der Spagat zwischen klassischen Diru-Wahnsinn und Eingängigkeit sehr gut gelingt. Kyo ist ein Hate-It-Or-Love Fall, aber allein wie er in 'Revelation of Mankind' die verschiedene Gesangsstile kombiniert, muss man ihm Respekt zollen. Highpitched Screams, Klargesang, Growls und seine "tralala Kopfmusik" innerhalb von einer Strophe unterzubringen sind schon geil
"Dort gibt es keine feststehenden Gebäude, nur eine Vielzahl an Räumen, untereinander verbunden durch einen launischen, dunklen Ozean. Die Zimmer bieten teilweise Geborgenheit, bevor ein unbekannter Drang den Insassen wieder hinaus zerrt."
Was werft ihr denn ein, bevor ihr so 'ne Sülze schreibt?
kann man so stehen lassen. das album ist gelungen. und kyo ..genau der richtige sänger.
Na, wenigstens wird Kyo in dieser Review nicht mehr als Frontzwuckel beschimpft...
Die Jungs hatten letztes Mal aber auch das Pech, gerade mit ihrer schwächsten Scheibe hier bewertet zu werden.
Zum neuen Album: Kommt nicht ganz an Uroboros ran, aber wenigstens sind die Melodien wieder zurück, die ich auf Dum Spiro Spero doch öfters vermisst hatte. Dass es nicht die technische Wunderplatte des Jahrhunderts ist, stimmt schon. Ich feiers trotzdem.
Und: Kyo entwickelt sich immer weiter in richtung japanischer Patton. Kann der nicht auch mal ne Avantgarde-Scheibe rausbringen?