laut.de-Kritik
Die Magie zwischen den Zeilen.
Review von Jan HassenpflugIn einer schnelllebigen Musikwelt, in der Erfolg oft nur einen flüchtigen Moment beschreibt, sind die daraus erwachsenden Erwartungen oft gnadenlos. Nur wer stetig weiter abliefert, hebt den Fluch der guten Tat auf. Nach zwei alles überstrahlenden Platten ist auch bei Erra der Druck groß, aber offensichtlich nicht so groß wie das Vertrauen in die eigene Stärke. Anders lässt sich nicht erklären, dass die Band aus Alabama mit "Cure" das nächste rundum überzeugende Gesamtwerk rausfeuert und dabei sogar neue Akzente einstreut.
Zum Einstand macht der Titeltrack gleich viel mehr her, als es sich ohne Kontext als Vorab-Single erahnen ließ. Für sich betrachtet gibt der arg steril anmutende Vorgeschmack noch Rätsel auf. Im Gesamtkonzept eignet er sich bestens, um die allgemeine Grundstimmung einzuführen. Vibrierende Bassläufe rollen unheilvoll an und bauen typisch für Erra die dystopische Kulisse einer durchtechnisierten Parallelwelt auf. Tief dröhnend verschluckt das Prog-Monstrum die verhaltenen melodischen Ansätze und besinnt sich darauf, ordentlich auszuteilen. Im zerberstenden Breakdown bündelt sich die progressive Härte zum Höhepunkt. Ganz bewusst übt sich das melancholische Moment zum Start noch in Zurückhaltung. Erstmal Zeichen setzen!
Um gleich beschwichtigend den Gegenbeweis anzutreten, bringen "Rumor Of Light" und "Idle Wild" eine sphärische Leichtigkeit ins Spiel, die sich geführt von Jesse Cashs Klargesang, quasi automatisch einstellt. Schnell katapultiert uns der überwältigende Sound in eine ferne Galaxie. Verzückende Gitarren-Interludes und leichtfüßige Gesangslinien prägen den Hoffnungsschimmer, während JT Cavey im Einklang mit groovenden Riffbrettern gegen das beklemmende Setting anschreit. Wie so häufig lebt dieser Zwist von einer fein austarierten Laut-Leise-Dynamik.
Apropos leise: Als atmosphärische Verschnaufpause sticht "Blue Reverie" besonders hervor. Ein lethargischer Einstieg, der gelöste Chorus und nicht zuletzt die plötzliche Wesensveränderung hin zur wütenden Bestie sorgen für Wiedererkennungswert im Erra-Kosmos. "Do you imagine, the illusion calls your name from a world you can’t embrace? Hide away, hide away!", befreien sich Zeilen wie diese aus den Fängen eines trügerischen Scheins. Es braucht mehrere Durchläufe, bis der Song seine komplette Tragweite entfaltet. Ohne sich penetrant aufzudrängen, bleibt die Nähe zu Cashs Zweitprojekt Ghost Atlas unüberhörbar.
Dagegen setzt "Pale Iris" geradezu unspektakulär auf Altbewährtes. Die bereits 2023 veröffentlichte Single bleibt klar in ihrer Struktur, vereint Abriss und Melodie zu einem Garanten für Nackenschmerzen im Moshpit. Drumherum gibt es viel zu entdecken. Da wäre "Slow Sour Bleed", das sich aus einem Dark Wave/Techno-Exzess heraus zu einem brettharten Djent-Gewitter entwickelt. Zuweilen provozieren die Amerikaner mit der technischen Zerstörungswut Abnutzungserscheinungen, gehen aber immer gerade rechtzeitig dazu über, eine gegensätzliche Facette ins Scheinwerferlicht zu schubsen.
Dennoch rücken unbequeme, experimentelle und eben harte Züge, anders als auf den Vorgänger-Alben, verstärkt in den Fokus. Verpackt wie eine Tool-Hommage gibt "Wish" den einleitenden Prolog, bevor "Glimpse", entfesselt von einer bombastischen Gitarrenfigur, richtig aufdreht. Statt sich im Chorus aber endgültig aus der progressiven Machart zu befreien, dämmert Cashs Gesang bloß komatös vor sich hin und widerstrebt so einem eingängigen Muster. Wieder sind mehrere Anläufe nötig bis die Enttäuschung darüber einer Faszination für das durchdachte Songwriting weicht.
Schließlich geht's auch einfacher. Den poppigen Spaßfaktor bedient "Past Life Persona" und genießt seine Rolle in vollen Zügen. Ausschließlich von Clean Vocals getragen eignet sich der Song bestens, um auf dem Highway gen Sonnenuntergang zu cruisen. So geht Leichtigkeit!
Zum großen Finale fügen "End To Excess" und "Wave" nochmal sämtliche Stilmittel für zwei potentielle Fanlieblinge zusammen. Klar, dass berührende Harmonien den Weg ebnen. Wenn Cash dann noch seine komplette Range von der Leine lässt, ist Gänsehaut pur angesagt. Moshbare Brandbeschleuniger liefern erwartungsgemäß ein wuchtiges Gegengewicht.
Erwartungen erfüllt also? Letzlich steckt auch in "Cure" unfassbar viel Detailarbeit. Jede noch so kleine Tempoverschärfung, jeder Rhythmuswechsel und jede irritierende Zurückhaltung folgt einem übergeordneten Plan. Wie eine Art Puzzle erschließt der sich erst langsam nach mehrmaligem Hören. Dazu erschaffen Erra Bilder mit ihrem Sound, die uns wie ein Fantasy-Roman aus der Alltagswelt reißen. Zu viel Neues, zu viele überraschende Nuancen verbergen sich hinter jeder Ecke. Wer die Magie zwischen den Zeilen erfahren will, muss sich vielleicht noch tiefer einlassen als zuvor.
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