laut.de-Biographie
Etana
Gerade im Reggae-Geschäft dauert es oft Jahre, bis ein Künstler mit seiner Musik wirklich Fuß gefasst hat. Etana scheint bei allem, das sie in Angriff nimmt, den Turbogang eingelegt zu haben: Sie verzeichnet bereits vor der Veröffentlichung ihres ersten Albums mehrere Nummer-1-Hits.
Die Fähigkeit, sich auf einem von Männern dominierten Feld zu behaupten, eignet sich Shauna McKenzie von klein auf an. Sie erblickt in August Town im Südosten Jamaikas das Licht der Welt: das einzige Mädchen unter lauter Brüdern.
Von der karibischen Sonne verschlägt es Shauna in den Sunshine State: Die Familie übersiedelt mitsamt der Neunjährigen 1992 nach Miami in Florida. Hier wächst Shauna auf und entpuppt sich nicht gerade als Musterschülerin: Ständiger Auseinandersetzungen wegen muss sie die High School vorzeitig verlassen.
Ihrem späteren Künstlernamen Etana, was auf Swahili 'die Starke' bedeutet, wird Shauna jedoch schon damals gerecht: Weder der Schulverweis noch eine frühe Schwangerschaft halten sie davon ab, doch noch einen Abschluss zu erwerben und sich am Broward Community College einzuschreiben.
Die junge Mutter hat einen Pflegeberuf ins Auge gefasst. Allein, es kommt ihr die Musik in die Quere. Die jamaikanischen Wurzeln manifestieren sich in einer tiefen Liebe zum Reggae. Neben Bob Marley, Peter Tosh und Sizzla lassen Etana jedoch auch Interpreten wie Lauryn Hill, Whitney Houston, Jill Scott und India Arie nicht kalt. Sie schätzt Jazz, Pop, Rock, Hip Hop und R'n'B gleichermaßen.
Die fachfremden Interessen überwiegen schließlich. Etana bricht 2002 ihre Studien ab, um in den Reihen einer auf Chart-Erfolg getrimmten Girlgroup ihr Glück zu versuchen: Das Mädchentrio Gift wächst sich allerdings zu einer Etappe im Lebenslauf aus, auf die Etana nicht gerade mit Stolz zurück blickt.
"Als ich eingestiegen bin, sagte man mir, dass es sich dabei nicht um eine Beyoncé- oder Destiny's Child-mäßige Sache handeln sollte", erinnert sie sich im Interview mit der Broward Palm Beach New Times. "Nur leider stimmte das nicht. Ich musste plötzlich Dauerwellen tragen, durfte nicht essen oder anziehen, was ich wollte. Um Musik drehte es sich gar nicht mehr, nur um Verkäufe und um Sex. Es war weder erhebend, noch brachte es einen voran. An der ganzen Angelegenheit war überhaupt nichts Positives."
Beim Videodreh zur Debüt-Single reicht es Etana schließlich: "Da kochte alles über. Wir trugen nur Unterwäsche und Stilettos. Ich erinnere mich noch, dass der Kameramann auf mich zoomte, und ich hatte keine Ahnung, was er eigentlich sah. Das war unangenehm. Ich wollte mit der Geschichte nichts mehr zu tun haben, also ging ich."
Desillusioniert vom glitzernden Musikbusiness beschließt Etana, demselben den Rücken zu kehren. Sie kehrt nach Jamaika zurück. Der Plan: Sie möchte sich in Kingston als Unternehmerin versuchen und ein Internet-Café eröffnen. Man ahnt es bereits: Auch daraus wird nichts. Ein Freund, der von ihrem Gesangstalent überzeugt ist, bringt Etana mit den Mitarbeitern von Fifth Element Records in Kontakt.
Hier sucht man gerade gesangliche Verstärkung für Richie Spice. Etana läuft zum Vorsingen ins Studio, um es mit einem Flugticket in der Tasche wieder zu verlassen. Aus einem einzelnen geplanten Auftritt mit Richie Spice in Kalifornien erwächst eine 15 Monate währende Tour durch die USA, Europa und Afrika.
"Ich hatte gar keine Ambitionen, als Solo-Sängerin aufzutreten", beteuert Etana. "Aber wir waren ein Jahr lang unterwegs, und überall, wo wir hinkamen, fragten die Leute: 'Wer ist die Background-Sängerin?'" Viel mehr als die Unterstützung einer Akustikgitarre und Richie Spice' Percussionisten bedarf es dann auch nicht, um den ersten Hit zu fabrizieren: "Wrong Adress", eine rührende Conscious-Ballade über eine Frau, deren Herkunft sie bei der Jobsuche behindert, avanciert zum Favoriten der Radios.
Mit "Roots" katapultiert sich Etana 2007 endgültig in den Status eines viel versprechenden Newcomers unter den Reggae-Singer/Songwritern. 22 Wochen lang findet sich der Tune in den Spitzenregionen der jamaikanischen Charts und entert auch Reggae-Playlisten fernab der Inselheimat.
Die poetischen Texte fliegen Etana dabei schier zu: "Manchmal sind sie einfach da. Dinge, die meine Großmutter zu mir sagte. Ich kann sie hören, sie besucht mich früh morgens. Ich könnte da Dinge erzählen ... aber Ihr würdet mich bloß für bekloppt halten."
Der Geist der Oma scheint jedoch nicht die schlechteste Inspirationsquelle darzustellen. Etana betreibt mit Freemind Music inzwischen ihr eigenes Label, tourt ausgiebig und international, tritt zudem auf Festivals auf und streicht etliche Preise ein.
"Ich habe nie gedacht, dass Jamaika meine Musik derart aufnehmen wird", verwundert sie der eigene Erfolg. "Auf Jamaika gibt es gerade einmal zwei oder drei Frauen, die sich nicht über Sex verkaufen und mit dem Arsch wackeln, um irgendwohin zu kommen."
Nun - Etana zählt dazu. Auch die nächste Single, das druckvollere, Dancehall-lastigere "Warrior Love", erfreut die Massen. Höchste Zeit also für das erste Album: Passend "The Strong One" betitelt erscheint Etanas Longplayer-Debüt im Juni 2008 bei VP Records und umfasst Produktionen von Dean Fraser, Carl James und Robert Livingston.
Kritiker begeistert die soulige, zugleich kräftig und zart anmutende Stimme, sie sehen in der aufstrebenden Sängerin das jamaikanische Äquivalent zu India Arie. Parallelen zu einem ihrer großen Vorbilder: Etana dürfte das freuen.
Insgesamt vier Longplayer erscheinen bei VP Records, darunter ergibt sich auf der (bald vergriffenen und nie wieder nachgepressten CD) "Free Expressions" eine Zusammenarbeit mit Label-Kollege Alborosie, der für sie trommelt und die Gitarrensaiten zupft. Es ist nicht die erste Kollabo der beiden, schon 2008 gab es das Duett "Blessing" (das aber erst 2014 unter dem Titel "Specialist Presents Alborosie & Friends" auf CD erscheint).
Das Album "I Rise" beschäftigt sich - ebenfalls 2014 - in einigen Texten explizit mit der Rolle als Frau in der Karibik: "Jamaican Woman", "Richest Girl" und "Emancipation (Spoken Soul II)" heißen einige der Tracks. Es produziert ein Mann, wohl der beste: der legendäre Clive Hunt.
Zu einer Live-CD lässt sich das Plattenlabel nie hinreißen, deswegen veröffentlicht Etana 2018 auf eigene Faust einen Mitschnitt aus dem O2-Forum London. Mittlerweile sind die Auftritte in Europa seltener geworden: Eine missverständlicher Interviewaussage von ihr, dass sie Verständnis für Trump-Wähler habe, sorgt im Vorfeld der US-Wahlen 2016 für einen Shitstorm und für Distanzierungen. Nicht jeder, der vorher mit der Künstlerin zusammen arbeitete, unterstützt sie noch. Hintergrund ist, dass die Sängerin zeitweise in den USA lebt.
In den folgenden Versuchen, ihre Aussagen zu relativieren, fällt unter anderem ihr Statement, Trump werde schon keine Mauer an der mexikanischen Grenze errichten, dies sei lediglich Wahlkampfgerede von ihm. Sie kritisiert, Hillary Clinton, die demokratische Kandidatin, hätte überhaupt kein Interesse, rassistische Polizeigewalt zu beenden.
Das folgende Album "Reggae Forever" bringt die Jamaikanerin bei der Konkurrenz heraus. Es wird eines der wenigen Reggae-Alben der Grammy-Geschichte, das ohne Support eines großen Labels für die Preisverleihung nominiert wird. Es gewinnt zwar nicht, wird aber dann physisch nachgefragt. Dafür hat Tad's Records nicht die Möglichkeiten, sodass VP die gute Etana als CD und LP wieder in den Katalog aufnimmt.
Etana hindert der verlorene Grammy (gewonnen haben Sting & Shaggy) nicht an einem zügigen Stoß weiterer Releases, die sie als Selfmade-Artist aufnimmt: Von der EP "Dimensions" (2019) geht es zu ihrer Geburtstagsplatte "Gemini" (Zwillinge, 2020), bald folgt auch schon das sehr poppige "Pamoja" (2021). Der Slogan ihres ersten Albums bleibt ihr dabei stets als Beiname erhalten: "Etana, The Strong One."
Trotzdem gilt sie der Grammy-Jury wieder nicht als stark genug und verfehlt nach der zweiten Nominierung erneut die begehrte kleine goldene Statue. Ende 2022 erscheint ebenfalls nur digital "Acoustic Gold Vol. 1 (Live)". Zum 'live'-Feeling fehlt indes das Publikum. Die sehr ruhigen und sedierenden Aufnahmen glänzen auf jeden Fall nicht vor Feuer golden. "Acoustic Gold" setzt mit ein paar gecoverten Zeilen auf Swahili die Neigung Etanas fort, den afrikanischen Markt stark ins Visier zu nehmen.
An Stephen Marleys Projekt "Celebrating Nina: A Reggae Tribute To Nina Simone" wirkt Etana 2023 auch mit, hier covern ausschließlich Frauen die Vocal Jazz-Legende. Nach einigen Ausflügen in die Bubble-Bounce-Welt der Afrobeats legt Etana mit "Nectar Of The Gods" im Sommer 2024 wieder ein klassisches, mitunter recht soulvolles Album mit einer Mischung aus Liebesliedern und religiös getränkten Upliftment-Nummern vor. Live tourt sie zwar zeitgleich zu mehreren deutschen Festivals, singt dort aber vorwiegend älteres Material. Einen umfassenden Live-Mitschnitt gibt's auch auf den Streaming-Plattformen unter dem Titel "Pamoja Festival" zu hören.
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