laut.de-Kritik
Bissige Zeitdiagnose der Post-Punk-Veteranen.
Review von Alexander Kroll"?0??" – ein Jahr löst sich in Fragezeichen auf. Mit dem Titel ihres zwölften Albums verweisen die altgedienten Punk-Poeten Fehlfarben darauf, dass in der Pandemie lange Zeit ungewiss blieb, wann und ob ihr Longplayer überhaupt fertiggestellt werden könnte. Gleichzeitig liefert "?0??" die passgenaue Überschrift für ein Werk, das die vielen Unsicherheiten unserer Gegenwart in den Blick nimmt.
42 Jahre nach dem Meilenstein "Monarchie und Alltag", zwanzig Jahre nach dem Comeback "Knietief im Dispo" und sieben Jahre nach dem letzten Album "Über... Menschen" präsentiert die aus Düsseldorf stammende Band eine lautstarke Zeitdiagnose, die zwischen Fragen und Ausrufen wütet. Mit Dringlichkeit bespielt das Sextett um Frontmann Peter Hein die bandtypische Klaviatur vom schlechtgelaunten Poltern bis zu scharfen Spitzen und strauchelt dabei in etwa so oft, wie es ins Schwarze trifft.
"In die Welt gestellt" bietet eine starke Einführung ins Fehlfarben-Weltbild. Im schattierten Post-Punk-Rahmen treibender Gitarren, kreisender Keys und Heins drängender Stimme funktioniert der Opener als außergewöhnlicher Lebensratgeber zwischen Entfremdung und Hoffnungsschimmer ("Ich fühle mich in die falsche Welt gestellt / Ich fühle mich trotzdem eins mit Dir").
Melancholisch pointierte New Wave-Philosophie gelingt auch mit "Brot ohne Spiele". Während die Band auf dem Album immer wieder Sarkasmen skandiert, zeigt sie sich hier vom pandemiebedingten Drohszenario eines Verschwindens der Kunst zu einer ästhetisch reflexiven Zuspitzung getrieben ("Büchern fehlen Seiten / Texten fehlt der Sinn / Rahmen ohne Bilder / Wo sind die Farben hin / Stimmen fehlen Lieder / Musik fehlt der Krach / Bühnen ohne Spieler / Ein Witz wo keiner lacht").
"Tanz auf der Straße" bringt die gewünschte erfrischende Zerstreuung. "Da war doch mal was / Das nannten sie Spaß" ruft Hein, der 2021 für sein Lebenswerk als Düsseldorfer des Jahres ausgezeichnet wurde. Zwischen Nostalgie und Post-Pandemie-Vision vereinen sich berauschter Funk-Rhythmus und besoffene Lyrics zu einer Fehlfarben-Version von "Dancing in the Streets". Herrlich albern, wie Hein abschließend noch die Beastie Boys-Freiheitshymne "(You Gotta) Fight for Your Right (to Party!)" in den Gassenhauer holt.
Im Strom der schweren Themen entfaltet "?0??" viel Wut und Bissigkeit, die sich oft am Kipppunkt bewegt. Brandaktuell beeindruckt "Stolz" als gnadenlose Abrechnung mit Nationalismus, Kapitalismus und Krieg ("Schon wieder Krieg / Zum Glück nicht bei mir / Das lass ich mir was kosten / Da zahl ich was dafür und zwar mit schnellem Geld / Aus gesparter Energie"). Doch die Sprechgesang-Attacke über wehmütige Synths und aufgepeitschte Riffs versteigt sich zunehmend ins parolenhafte, ja profane Herumbrüllen. Ganz ähnlich erspielt und verspielt die Punkrock-Collage "Der letzte Traum" seine Qualitäten.
Manchmal überquillt die Spöttelei inmitten monotoner Klangkulissen ("Nachhaltig", "Europa", "Ich kann es kaum erwarten"). Ausgerechnet im Finale schwappt die schlechte Laune vollends über. Mit dem Rammstein-Abdruck "Das Rennen macht müde" und der Disco-Schiffsallegorie "3 Kapitäne" erklingen Hiobsbotschaften, bei denen der Hörgenuss schwer fällt.
Keine Hoffnung auf Besserung? "Es muss ja gar nicht besser werden", schmunzelt Hein im Gespräch mit dem WDR, "Es langt doch, dass es scheiße ist". Da ist sie doch, die positive Perspektive.
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