laut.de-Kritik

Prestige-Gruppe feuert aus allen Rohren.

Review von

Wer dachte, The Weeknds "Blinding Lights" und Dua Lipas "Future Nostalgia" haben in unseren Breitengeraden einen immensen Retro-Hype ausgelöst, der kann sich gar nicht vorstellen, was gerade in Korea abgeht. Da dominiert die neue Disco-Sehnsucht alles. Im letzten Jahr allein erschienen Retro-gefärbte Banger von nicht weniger als BTS, TXT, JYP, Sunmi, Lee Suhyun, Everglow, Twice, Loona, Got7, NCT U, GWSN, Heize, Yukika, Taemin, Mamamoo und WJSN. Heißt: Wenn eine Gruppe wie GFriend den Sound anzapft, muss sie schon extra-dick auffahren, um noch einen Hund hinter dem Ofen hervorzulocken. Doch das immer schon renommierte Sechsergespann, dessen Songs nie ganz seinem Potential gerecht wurden, nutzt den Mantel der Nostalgie, um in seinem fünften Jahr abzuliefern wie nie zuvor: Nach zwei EPs in diesem Jahr läutet dieses Projekt eine Renaissance ein und entzündet ästhetisch, konzeptuell und musikalisch bisher ungeahntes Feuer.

"回: Walpurgis Night" ist ein Projekt der Läuterung. An vielen Enden nutzen sie Signifikanten von Magie und Tarot, um sich einen Vibe des Übernatürlichen anzueignen. Das zeichnet sich nirgends besser ab als im Titeltrack "Mago". Dieses Disco-Monster verschmilzt unapologetische Bee Gees-Klangkulissen mit einem sinisteren Film Noir-Ton. "6960 Magic" singt Umji und bezieht sich auf eine berühmte Aufnahme des Cirrusnebels, die auch "The Witch's Broom Nebula" genannt wird, bevor der eklektische Chrous "My life is waiting for you" anstimmt, gefolgt von dem Titelgebenden Chant "Mago, Mago". Dieses Kunstwort kommentieren sie als Fusion aus dem romanischen Wortstamm für "Zauberer" und dem arabischen Lehnwort für "Göttin". Der sehnsuchtsvolle Banger kann also als Jam übers Late-Night-Hook-Up oder an die Anrufung an ein göttliches zukünftiges Selbst verstanden werden. Wie auch immer man ihn versteht, spätestens wenn Sin B in der Bridge mantrahaft "in this midnight, in this midnight" singt, türmt sich der ätherische Klang ihrer fantastischen Stimmen zu einem absolut unausweichlichen Song auf.

Es lohnt sich trotzdem, die kleinen Nuancen herauszulesen, denn zwischen sofort funktionalen Pop-Maßschneidereien treten immer wieder kleine Doppelbödigkeiten auf, die die intrigant vernetzte Stimmung des Projektes ausmachen. Denn: Wo im K-Pop sonst kaum ambitionierte Album-Arbeit geleistet wird, fügen sich hier die Titeltracks aus den zwei vorigen EPs zu einer gesamten LP-Erfahrung zusammen, so konzeptuell, wie sie sonst eigentlich den großen Solisten vorbehalten ist.

Allein der Anfang zeigt, wie ernst GFriend dieses Unterfangen ist. Statt sofort ins B-Seiten-Willkürland abzudriften, folgt mit "Love Spell" ein thematisch extrem kohärenter, melancholischer Track mit Einschlag aus dem Alt-Rock der 90er. Dass die Einflüsse so klar zugeordnet werden können, bleibt aber nicht bestehen. Im Mittelteil fließen Ideen weitaus assoziativer Zusammen, "Better Me" kombiniert moderne Percussions mit Latin-Gitarren und ätherischen Vocals, die atmosphärisch überraschend genau auf dem folgenden Subunit-Track "Night Drive" gespiegelt werden: Eunha und Yuju kanalisieren die selbe Form von spätnächtlicher Melancholie auf poppig-unterkühle Trap Soul-Produktion.

Aber während die Subunit-Songs im Mittelteil den vielleicht am wenigsten direkten Teil der Platte bieten, liefert deren Umfeld nichts als Highlights. "Three Of Cups", benannt nach der Tarot-Karte der weiblichen Energie, macht einen spektakulär eingängigen City Pop-Tune auf: Disco-Ambiente senkt sich über die Atmosphäre der Seouler Skyline, eine zelebrierende Läuterung an die eigene Gruppe. Die Chemie und Synergie der Sängerinnen überzeugt, die Vibes aus dem japanischen 70er-Genre wird nur auf dem Album-Highlight "Crossroads" getoppt.

Diese ambitionierte Ballade adaptiert ebenfalls japanische Vibes, aber eher aus dem behäbigen J-Rock-Territorium. Und sie zeigt, warum GFriend wie Mamamoo und Red Velvet eine der starken Vocal-Gruppen darstellt: Der Gesang, die Dramaturgie und die reine Handwerkskunst auf diesem Song ist umwerfend. Es ist ein Song, um die beste Sorte Slice of Life-Anime zu eröffnen, so entrückt und trotzdem ansteckend wälzt er sein Melodrama aus. Wenn Yerin im letzten Chorus "entfalte dich, du singender Stern" beltet - nachdem der Song bis dahin beschwört, dass die Gruppe sich auch nach schlechten Zeiten wiederfinden wird – dann pendeln sich die astrologischen und übernatürlichen Themen und Bilder der Platte beeindruckend rund ein.

Es ist generell so erfrischend, ein K-Pop-Album mit starkem Schlussteil zu finden: Die Inklusion der anderen beiden Titeltracks "Apple" und "Labyrinth" macht, dass das Album nochmal zu einem ekstatischen Schluss ansetzt, die vielschichtige und noire Atmosphäre gleichzeitig mit großen Pop-Refrains und eindrucksvoller Coven-Ästhetik abschließt. Wenn "Wheel Of The Year" dann noch einmal irgendwo zwischen Trot und City Pop ein melancholisches Ende ausspielt, endet eine Platte, die nicht nur für Genre-Verhältnisse eine absolute Reise darstellt. "回: Walpurgis Night" ist ein ekstatisches, zelebrierendes Album, in dem Gfriend sich zu sich selbst bekennt, sich mit allen Facetten der Weiblichkeit solidarisiert und Läuterung wie Erfüllung in der geteilten Freundschaft findet. Die nostalgische Wärme des Retro-Hypes ist nur Sprungbrett, um einen Sound zu finden, der gleichermaßen eingängig wie wehmütig klingt. Entstanden ist dabei ein Retro-Banger, der bei Weitem nicht nur Kostümparty bietet.

Trackliste

  1. 1. Mago
  2. 2. Love Spell
  3. 3. Three Of Cups
  4. 4. GRWM
  5. 5. Secret Diary
  6. 6. Better Me
  7. 7. Night Drive
  8. 8. Apple
  9. 9. Crossrads
  10. 10. Labyrinth
  11. 11. Wheel Of The Year

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