laut.de-Kritik

Pink Floyd trifft auf Stockhausen.

Review von

Musik nimmt den Hörer bestenfalls mit auf eine Reise. Mit der neuen Platte von Gazpacho geschieht dies auf außergewöhnliche Weise. Von den einzigartigen Momenten, die der Mensch erlebt, greifen sich die Norweger einige heraus, die im Laufe der Jahre kulturelle und historische Relevanz entwickelt haben. Diese prägnanten Situationen friert das Sextett in mmagischusikalische Szenen ein, die ihrerseits höchst individuell und situativ gestaltet sind. Dieses minutiöse Herangehen an das lyrische Sujet erfordert eine größtmögliche Flexibilität, da die Themen anspruchsvoll gestaltet sind und Subtexte aufweisen.

Da wäre die Verknüpfung einer Kurzgeschichte von Nathaniel Hawthorne mit dem Erklingen der ersten Tonaufnahme aus dem Jahr 1860 in "Rappaccini", umgesetzt als impressionistisches Klanggemälde mit postrockigen Drecktupferln. Das buddistische Bestattungsritual, das "Sky Burial" zugrunde liegt, verknüpft die Band mit der Monumentalität der Natur und der auf "Molok" angerissenen Frage nach Sinn und Unsinn des menschlichen Daseins. Die Hans Christian Andersen-Story "Des Kaisers neue Kleider" kleidet die Band in "Emperor Bespoke" in ein folktronisches Klangexperiment.

Herzstück der Platte ist die tragische Geschichte des sowjetischen Kosmonauten Wladimir Michailowitsch Komarow, der beim unkontrollierten Absturz der Sojus 1-Raumkapsel 1967 ums Leben kam. Die "Soyuz"-Suite erstreckt sich über zwei Stücke und gipfelt in dem Artrock-Wunderwerk "Soyuz Out", das Jazz, Klassik und progressive Rock vereint.

Die Ästhetik des Covers und das Sounddesign atmen stark den Zeitgeist der 60er Jahre, in denen der kalte Krieg mit seinem Wettrüsten und dem Wettlauf ins All einen Höhepunkt erreichte. Der Mensch in einer hochtechnisierten Umgebung mündet in der Frage: Sind wir nicht alle ein bisschen Komarov? Gefangen in Zeit und Raum, eingesperrt in einen Körper, ausgeliefert der Prägung durch Erziehung und Natur.

Metrisch und harmonisch bewegt sich das Sextett in der künstlerischen Schwerelosigkeit. Mehrere polyrhthmische Layer, verquaste Notwist-Beats und Soundscape-Texturen tragen ihren Teil dazu bei. Schon längst haben Keyboarder Thomas Andersen und Co. die Umlaufbahn des Marillion-Referenzsystems verlassen und agieren wesentlich ungebundener als vergleichbare Artrock-Acts wie The Pineapple Thief oder Tim Bowness.

Zusammenhalt gewinnt das Kollektiv durch Sänger Jan-Henrik Ohme, dessen unendliche Melodiebögen den roten Faden darstellen. Diese brauchen Zeit bis sie hängen bleiben, entfachen aber bei intensivem Genuss ihren Zauber. Einzig "Hypomania" oder "Fleething Things" lassen dabei an Aktion auf der Bühne denken. Ansonsten trifft Pink Floyd auf Stockhausen in der Zeit des Fin de Siècle und sorgt für intensive Momente unterm Kopfhörer.

Trackliste

  1. 1. Soyuz One
  2. 2. Hypomania
  3. 3. Exit Suite
  4. 4. Emperor Bespoke
  5. 5. Sky Burial
  6. 6. Fleeting Things
  7. 7. Soyuz Out
  8. 8. Rappaccini

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LAUT.DE-PORTRÄT Gazpacho

Die Norweger Jon-Arne Vilbo (Gitarre) und Thomas Andersen (Keyboard) kennen sich seit der Kindheit an und über die gemeinsame Liebe zur Musik formiert …

5 Kommentare mit 16 Antworten

  • Vor 6 Jahren

    mmagischusikalische Szenen?

    Sonst angemessene Rezi, die mir ziemlich Lust macht, mich mal wieder näher mit denen zu befassen. Ende des letzten Jahrzehnts waren die mit "Night" u.v.a. "Tick Tock" für mich so etwas wie die besser gereiften Muse, hab die aber in diesem Jahrzehnt aufgrund anders gelagerter Musikinteressen doch etwas aus den Ohren verloren...

    • Vor 6 Jahren

      "night" und "tick tock" sind wirklich unfassbar gut. "dream of stone" von "night" während einer nächtlichen zugfahrt, und man fühlt sich wie am nachthimmel schwebend, bis man eindämmert, von dunkelheit umhüllt.. und in der melancholie von "checquered light buildings" habe ich mich damals so manches mal verloren. von "tick tock" find ich v.a. den letzten song "winter is never" unbeschreiblich berührend, schlusspunkt des albums, auf den sich alles zentriert und der erlöst, aber auch der einzige song des albums, der mit seiner eingängigkeit und abgeschlossenheit für sich stehen kann.
      hör derzeit sehr gerne "march of ghosts", weil es eine unfassbar besänftigende wirkung auf mich hat. es ist aber weit weg von den großtaten "night" oder "tick tock". bzgl. "soyuz" werde ich, auch wenn die review mir das album verdammt schmackhaft macht, noch warten, denn davor gabs ja noch 2 alben mit sehr ordentlichen kritiken..
      aber du musst mir erklären, inwiefern gazpacho dich an muse erinnern, deren ersten 3 alben ich ja auch feier, aber ich seh halt echt überhaupt keine ähnlichkeit..

    • Vor 6 Jahren

      Gazpacho haben mich früher, zu "Firebird"- Zeiten acuh durchaus an Muse erinnert, aber das ist shcon einige Zeit her und der Weg den sie danach eingeschlagen haben gefällt mir wesentlich besser. An Muse erinnern sie mich seit mindestens 4 Alben überhaupt nicht mehr. Tick Tock bleibt auch für mich ihre Großtat.

    • Vor 6 Jahren

      ok, "firebird" hab ich nie gehört, geb ich zu, wenns da ne muse-verbindung gibt, hab ich die nicht mitbekommen.. gazpacho ist für mich heutzutage der inbegriff von ruhe angesichts all der irrungen und wirrungen des alltags. muse haben da keinen platz.

    • Vor 6 Jahren

      Grätsche mal dazwischen, da hier "Missa Atropos" noch nicht genannt wurde. Eine wirkliche geile Scheibe. Mein Einstieg war aber auch "Tick Tock". Mittlerweile zum Klassiker gereift.

    • Vor 6 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 6 Jahren

      Meine Favoriten sind “Tick Tock“ und ”Missa Atropos“, die haben schon tolle Sachen gemacht aber ist meiner Meinung nach eine Band, wo man in der richtigen Stimmung sein muss, um sich auf dieses Hypnotische einzulassen. Muse habe ich da auch noch nie rausgehört.

    • Vor 6 Jahren

      souli, wie schreitet die Albumproduktion voran?

    • Vor 6 Jahren

      @Red.: Fehler in der Review besteht noch immer. Das löst derweil mmagischusikalische Gefühle in mir aus :p

      @Muse-Einfluss ja/nein:
      Also ich hab bis inklusive "Tick Tock" schon häufig das Gefühl, dass sich der Sänger stilistisch deutlich und über die ersten Alben hinweg häufiger in Richtung Muse gelehnt hat, vielleicht nicht so exaltiert, aber allein ihr Timbre ist doch sehr ähnlich und Gazpacho haben Muse (im letzten Jahrzehnt) durchaus häufiger auch selbst als Einfluss benannt...

      @Schwinger
      Witzig, dass du es gerade jetzt ansprichst. Nach einigen Besetzungswechseln, Durststrecken und technischen Rückschlägen sind wir inzwischen ein stabiler female-fronted-Fünfer und morgen Nachmittag beginnen die Schlagzeugaufnahmen für die erste EP, 4 - 6 Tracks, bisher stehen 4 mit Gesang.
      Diesmal kann ich ggf. sogar so sehr hinter dem Projekt stehen, dass ich hier mal mehr poste als den üblichen Vorzeigetrack, sobald es was zu posten gibt :D

    • Vor 6 Jahren

      Souli wird DocRockstar? :eek:

    • Vor 6 Jahren

      Letzter Versuch vor Endstation Bürgertum, meine Mitstreiter/innen sind entsprechend 10 Jahre jünger im Durchschnitt... :lol:

    • Vor 6 Jahren

      Ich hab hier irgendwie Hemmungen, was eigenes zu posten

    • Vor 6 Jahren

      Och, ich hab hier die letzten Jahre schon häufiger eigene Projekte und befreundete Acts eingestreut...

      Manchmal trifft das auf (vorher schon vorhandene) Gegenliebe, wie im Falle der trotz zwischenzeitlicher Auflösung nach wie vor unterschätztesten deutschen Amateur-Band des aktuellen Jahrtausends (Trip Fontaine), manchmal kommt bissl konstruktive Kritik oder ein wenig Anerkennung von üblichen Verdächtigen, insgesamt wird m.E. aber milder mit mensch umgegangen, als wenn er/sie einfach nur wie üblich hochnäsig die eigene Meinung ins Forum klatscht.
      Speziell diesmal bin ich schon etwas nervös, wenn ich weiß, dass ein technisch versierter und selbst aktiver Drummer mit nem tauglichen Musikgeschmack lauscht. Produktion übernehme ich nämlich zum ersten Mal im Leben fast komplett alleine und unser Drummer wurde vor allem auf Grundlage menschlicher, weniger auf der von technisch-musikalischen Kriterien gewählt, if you know what I mean :D

      Quantitativ reden wir hier jedoch eh nur von 10-20 zusätzlichen Klicks durch die Nasen bei laut.de, gibt also in keine Richtung wirklich was "zu befürchten".

  • Vor 6 Jahren

    Souli spricht in jeder Hinsicht wahr. Firebird und Night waren bei mir damals dauerrotierend und auch Soyuz soll nicht ungeprüft bleiben.

    • Vor 6 Jahren

      if you have any post-rock news.. ;)

    • Vor 6 Jahren

      Zur Zeit kaum. Ich war vorletztes Wochenende aufm dunk in Belgien und konnte nicht viel an Neuentdeckungen mitnehmen, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Caspian und Telepathy waren die Highlights, was aber auch schon von vornherein für mich feststand. :D
      Die einzigen, von denen ich mir dann doch noch ne CD gekauft hab, waren Besides aus Polen. Kann man sich auf jeden Fall mal anhören:
      https://besides.bandcamp.com/album/everyth…

    • Vor 6 Jahren

      Nicht direkt Post-Rock und euch vielleicht schon bekannt aber dieses Album kann ich uneingeschränkt empfehlen, da sollte jeder Oceansize-Fan Freudensprünge machen.
      https://officialtoska.bandcamp.com/album/o…

    • Vor 6 Jahren

      @morpheau: telepathy und besides sind ja mal direkt ziemlich stramme empfehlungen, denn beides trifft ins schwarze bei mir, mag diese musikalischen ausrichtungen sehr z.Z., many thanks. telepathy ähneln cranial, vielleicht für dich n reinhören wert.
      @radiohead9: toska sind klasse, treibend und abwechslungsreich, rhythmisch vertrackt, groovend und fordernd zugleich. bin allerdings z.Z. nicht so in der stimmung für diese ausrichtung, weswegen ich auch der neuen toundra so wenig abgewinnen kann. aber ist vorgemerkt!

  • Vor 6 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 6 Jahren

    Meine erste Gazpacho und gleich ein Durchbruch. Ich weiß gar nicht, ob mir die rockigen ("Hypomania", "Sky Burial") oder die ausladenderen ("Emperor Bespoke", "Burial One") Momente besser gefallen. Auf jeden Fall setzt die Band die Spannungsbögen an den richtigen Stellen und verfällt dabei nicht in Dramatik oder zur Schau gestellten technischen Höchstleistungen.

  • Vor 6 Jahren

    Instrumental gut, aber beim Gesang zieht's mir die Schuhe aus...