laut.de-Kritik
Großes, hymnisches Gefühl und erfrischend radikaler Humor.
Review von Ulf KubankeDem deutschen Pop geht es gar nicht mal so gut. Überall Platten, die außer Retro-NDW Platitüden nichts zu sagen haben. Bands, die in aufgesetzter Rebellenpose ersaufen oder Befindlichkeitsschmand bieten. Sogar die große, alte Tigerin Annette Humpe hat mit Ich & Ich die personifizierte Zahnlosigkeit kultiviert. Doch zum Glück gibt es noch Bands wie Grossstadtgeflüster. Ihr viertes Alum mit dem charmant unkonventionellen Titel "Oh, Ein Reh" bietet poppiges Entertainment und originelle Texte. alles umklammert von natürlicher, unbekümmerter Frechheit und viel Talent.
Die vielseitige Steckdosenmucke ergänzen wavige Reminiszenzen an die alte Tante Neue Deutsche Welle und elegant eingewobene Elemente gegenwärtiger Trends wie Dubstep. Verpunktes Gaspedal zwischendurch und poppige Melodien für den Club. Alles zusammen ergibt auf 14 Tracks eine ganz und gar eigenständige Chemie.
Genau deshalb geht das nur scheinbar ausgelutschte Konzept mit Frontgirl plus zwei Typen auch komplett auf. Leadsängerin Jen Bender ist mal Elektropunkgöre, dann Popdiva oder Alltagsphilosophin mit erfrischend radikalem Humor, der auch Selbstironie kein Fremdwort ist. Aber nicht eine Sekunde belanglos oder belehrend. Die nervtötende Bioladentussi mit erhobenem Zeigefinger bleibt ebenso zu Hause wie das verkrampft auf Normalität bedachte Durchschnittsmädchen oder der aufgesetzt sexy Vamp aus der halbgaren Rockprovinz.
Vor allem die Rollenmodel bevormundende Müsli-Schickse bekommt ihr Fett weg." Du sagst, wir sollten drüber reden, bei einem Sojamilchkaffee. / Ich brauche niemand, der mich schaumschlägt, gib mir ne Kanne TNT. Puff!"
Raphael Schalz und Chriz Falk singen gelegentlich mit. Herrlich screwball-komödiantisch spielen sie ihrer souveränen Sängerin die textlichen Pässe zu. Der verfremdete Gesang der Herren unterstreicht die Kraft Benders, ohne musikalisch zu Stichwortgebern zu verkommen. "Düsen" ist einer dieser herrlichen Dialogmomente, in denen sich sogar die sprichwörtliche ironische Brechung kaputtlacht und im Refrain dafür echte Romantik auspackt. Sehr komisch: "Irgendwo und irgendwann trifft man sowieso den Sensenmann. / Und dann denkt man bestimmt nicht: Oh, ich war zu selten im Büro."
Von absurder Komik ("Ufos Überm Fernsehturm") über kotzende Systemkritik ("Das System Stürzt Ab") bis hin zum großen hymnischen Gefühl ("Wir Haben Uns Gerade Noch Gefehlt") haben sie schon jetzt die ganze Palette drauf, als seien sie alte Showbiz-Hasen. Sympathisch, wie sie jedem einzelnen Lied ein Augenzwinkern hinzufügen.
Die Platte hält insgesamt genau das, was das im Zusammenhang mit ihrem Titel besonders lustige Cover verspricht: Der Wahnsinn und das Skurrile brechen mit einer solchen Selbstverständlichkeit über den Hörer herein, dass man beides gern als Normalität annimmt. Tolle frische Musik aus deutschen Landen für alle, die sich gern mal wieder von originellen Klängen und ebensolchen Zeilen überraschen lassen wollen. Ich bin angefixt.
2 Kommentare
Hab davon per Zufall über einen Post von Marteria bei Facebook erfahren. Nach kurzem Reinhören hab ich mir die Scheibe direkt zugelegt. Elektronischer Sommer-Pop fürs Auto. Macht Spaß.
Ich kannte bisher nur "Ich muss gar nichts" von denen, das ging mir irgendwann ziemlich auf den Sack, weils in allen schwarzen Clubs, die ich damals frequentierte, rauf und runter gedudelt wurde. Hier höre ich mal rein.