laut.de-Kritik

Einmal vom Star zum Taxifahrer - und zurück.

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Vom Star zum passionierten Taxifahrer, und dann auf die Bühnen der Welt: Die bewegte Geschichte des 74-jährigen Äthiopiers und Jazz-Musikers Hailu Mergia liefert ein schönes Beispiel dafür, wie kleine, schicksalshafte Zufälle ein Leben nachhaltig verändern können. 2013 entdeckt der Musikethnologe und Labelbesitzer Brian Shimkovitz in Bahir Dar, der Hauptstadt der äthiopischen Provinz Amhara, in einem Geschäft das bereits 1985 veröffentlichte Tape "Hailu Mergia & His Classical Instrument". Elektrisiert von dem futuristischen Mix aus verschiedenen traditionellen Musikstilen, Soul, Funk und Jazz, kontaktiert er Mergia und bringt mit ihm noch im gleichen Jahr eine Neuauflage heraus.

Die stößt durchweg auf positive Resonanz: für den Musiker der Beginn seiner zweiten Karriere. Zu diesem Zeitpunkt lebt der Akkordeonist und Pianist bereits seit über 30 Jahren in Washington, D.C. und verdingt sich als keyboardspielender Taxifahrer. Jede Pause zwischen seinen Fahrten nutzt er zum Üben. Kein Wunder: Während seiner ersten Karriere in den 1970er Jahren gehört er in der äthiopischen Hauptstadt neben Mulatu Astatke in der Zeit des "Swinging Addis" zu den ganz großen Stars des Ethio-Jazz.

Mit der Walias Band veröffentlicht er 1977 den Genre-Klassiker "Tche Belew". Die Formation wächst zur bekanntesten Instrumentalgruppierung des Landes. Auftritte mit Duke Ellington und dem leider jüngst an Covid-19 verstorbenen Papa Groove Manu Dibango folgen. Nach dem Sturz von Kaiser Haile Selassie und der Machtergreifung der kommunistischen Militärjunta Derg sorgen sie als Hausband des Hilton Addis Abeba allnächtlich für das Gegenprogramm zur herrschenden Gewalt auf den Straßen.

1981 tourt die Gruppe als erste moderne Band ihres Landes durch die USA, spielt dort aber hauptsächlich vor äthiopischen Flüchtlingen. Nach der Tour lösen sich Walias Band auf. Hailu Mergia nutzt die Gelegenheit zur Flucht ins Exil, bleibt in den USA und residiert seither in Washington, D.C. In der örtlichen Musikszene fasst er nicht Fuß, Musik produziert er von da an so gut wie keine mehr. Für ihn ein gewaltiger Schritt vom Star zur vollkommenen Vergessenheit – bis Shimkovitz in das Leben des Ethio-Jazz-Schwergewichts tritt und dessen Wahrnehmung als eine Hauptfigur der äthiopischen Musikgeschichte international ins Licht rückt.

Nach über 20 Jahren Veröffentlichungspause erscheint 2018 mit dem gefeierten "Lala Belu" sein Durchbruch-Comeback-Album. Darauf präsentiert er, unterstützt von The Necks-Schlagzeuger Tony Buck, eine nochmals modernisierte Version seines ohnehin schon entspannten, zeitlosen Sounds. Die Jahrzehnte in den USA hinterlassen eben auch klanglich Spuren.

Der Erfolg gibt ihm Recht: Im Rahmen der Tour gastiert er 2019 auch auf dem Festival International de Jazz de Montréal, dem weltweit größten Jazzfestival. Auf "Yene Mircha" (amharisch für "Meine Entscheidung") führt er seine musikalische Vision nun mit seinen Hauptinstrumentalisten Alemseged Kebede (Bass) und Ken Joseph (Schlagzeug) nicht weniger intensiv, aber stilistisch breiter angelegt fort.

Schon die ersten Klänge des feinen Openers "Semen Ena Debub" machen klar, dass Mergia seinem Prinzip, sich ständig neu zu erfinden auf höchstem Niveau treu bleibt. "Du kannst alles machen mit äthiopischer Musik, sie sollte nicht nur diesen oder jenen Sound beinhalten", erklärt er den eigenwilligen Albumtitel kämpferisch.

Neben verschiedenen Rhythmen, die den Norden und den Süden Äthiopiens reflektieren, ertönt im getragenen Funk-Groove von "Semen Ena Debub" zwischen sanften Pianoklängen und dem prominenten Akkordeon auch eine von Setegn Atanaw gespielte Masinko, die einsaitige Kastenspießlaute der Azmari genannten Balladensänger und einziges traditionelles Streichinstrument Äthiopiens. In einer Art Call-and-Response-Prinzip nimmt Atanaw die Melodie des Akkordeons auf und führt sie fort, bevor der Track überraschend in einer schnellen Endpassage aus lateinamerikanischer Tanzmusik mit kreolischen Anklängen endet.

Im Vergleich zum Opener kommt der Titeltrack "Yene Mircha" mit angezogenem Tempo und deutlich mehr Soul und Funk zwar ebenso ausgereift, aber bedeutend spritziger rüber und geht daher insgesamt auch stärker ins Tanzbein. Dazu tragen vor allem die lässigen, traditionell jazzigen Gitarren-Licks und das virtuose, meisterhaft phrasierte Saxophonspiel von Hailu Mergias altem Walias Band-Weggefährten Moges Habte bei.

Auf Anfrage spielt Mergia 1975 gemeinsam mit der für ihre gesellschaftlichen Verdienste vergötterten äthiopischen Kultsängerin Asnakech Worku und Virtuosin an der Krar (fünf- oder sechssaitiges Zupfinstrument aus der Familie der Leiern) als Organist und Arrangeur die heute ebenfalls fast vergessene Platte "Asnakech" ein. Als Zeichen der Anerkennung Workus interpretiert er das darauf befindliche, flirrende "Bayine Lay Yihedal" mit seinem eigentümlichen Verständnis von traditioneller, landestypischer Musik radikal neu. Der mystisch-ferne Klang des Originales weicht in seiner Version vollständig einem modernen, sommerhaft relaxten Gewand aus Dub und Reggae. Mergia übernimmt die Orgelmelodie des Originals als prominentes Merkmal, macht aber aus dem Track etwas ganz Neues, erfrischend Eigenes.

Mit "Abichu Nega Nega" zollt der Nordostafrikaner dem aus Selalle stammenden Patrioten Abichu Tribut. Er nahm 1935 im Krieg gegen einfallende italienische Faschisten eine zentrale Rolle ein. Das energetisch pulsierende "Abichu Nega Nega" lebt von seinem pumpenden Bass und abermals von Hailu Mergias virtuos sprühender Orgel. Vielleicht kommt er hier mit seinem Spiel alten Walias Band-Tracks wie "Kalatashew Akal" am nächsten.

"Abichu Nega Nega" enthält dazu aber auch völlig unerwartet Gesang. Mergia, nicht nur in seiner Heimat eher bekannt für Instrumentalmusik, holt sich hierfür Unterstützung von Landsfrau und Sängerin Tsehay Kassa. Auch im nach dem Namen der Bahnstrecke zwischen Äthiopien und dem östlich davon gelegenen Dschibuti benannten "Shemendefer" bringt sie ihre Stimme zur Geltung. Mit dieser leichtfüßig interpretierten Ode an das Reisen blickt Mergia generationenübergreifend in die Zukunft und zeigt, dass Nostalgie für ihn definitiv kein Modus ist. Im Original stammt der Song vom regierungskritischen Teddy Afro, dem derzeit wohl größten Popstar Äthiopiens.

Dass 'Heimat' gerade für Exilanten in der Ferne ein ganz besonderes, semiotisches Konstrukt zur Wahrung der eigenen Identität darstellt, zeigt auf dieser Platte vor allem das lockere und zum Ende hin stark jazzige "Yene Abeba". Damit vertont Mergia eine Liebeserklärung an seine Heimatstadt Addis Abeba, die für ihn "die Blume [ist], die zu mir gehört". Optimistischer und groovender könnte er dabei nicht klingen.

Auf "Yene Mircha" präsentiert sich Hailu Mergia mit einer erweiterten Band als ganz und gar nach vorne blickender Musiker. Mit der stärkeren Implementierung von rockigen Elementen, Dub, Reggae, einer satten Portion Soul und Funk sowie Neuinterpretationen äthiopischer Songs schlägt er gekonnt eine kulturelle Brücke zwischen seiner ursprünglichen und seiner amerikanischen Wahlheimat. Zwar klingt "Yene Mircha" insgesamt weniger feurig als "Lala Belu", dafür deutlich entspannter, bunter und somit ergänzend anders. Die Zukunft? Für Hailu Mergia findet sie im Jetzt statt.

Trackliste

  1. 1. Semen Ena Debub
  2. 2. Yene Mircha
  3. 3. Bayine Lay Yihedal
  4. 4. Abichu Nega Nega
  5. 5. Yene Abeba
  6. 6. Shemendefer
  7. 7. Dibik Fikir

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