laut.de-Kritik

Deutschraps größter Rockstar schlägt auf dem Bordstein auf.

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Nach "Influencer" wolle Haiyti erst mal eine Auszeit nehmen und nur noch Singles veröffentlichen. Die Beschränkungen und Restriktionen, mit der sie ihr Label immer wieder zurückhält, würden sie kaputt machen, erzählte die Rapperin letztes Jahr Mauli und Staiger in deren Podcast. Im Gegensatz zu 99% der Szene vermutet man bei der Hamburgerin dahinter nicht einfach nur den nächsten plakativen Promomove, sondern eine ernstgemeinte, wenn auch etwas voreilige Resignation.

Nicht mal fünf Monate nach "Influencer" steht jetzt mit "Mieses Leben" aus dem Nichts ihr nächster Langspieler auf der Matte. Übernacht veröffentlicht und vollkommen ohne Promophase. Wieso? Weil sie es einfach nicht lassen kann. Haiyti ist Deutschraps größter Rockstar. Eine Vollblutmusikerin, die ihr Studio sicherlich schon lange als Zweitwohnsitz angemeldet hat, und mit jedem Release wieder und wieder beweist, dass sie einer Szene, die sich zunehmend in den eigenen Schwanz beißt, um Lichtjahre voraus ist.

In einer gerechten Welt wäre Haiyti das Gesicht des deutschen Hip Hops, Headliner auf dem Splash und auf der Titelseite des Rolling Stone. Aber glaubt man ihrer Musik und ihren Interviews, so könnte sie das nicht weniger interessieren. "Was ihr tut für die Klicks, nur weil ihr alle hoch wollt /Mann, ich bin dort schon gewesen und ich fands nicht so toll", rappt sie auf "Was Noch". Klickzahlen, Erfolg, Lobhuldigungen: Für sie alles relativ. Was zählt, ist die Musik. Und die ist auf "Mieses Leben" wieder einmal nicht von dieser Welt.

Verschwunden sind die Frankreich-Flirts von "Sui Sui" und die melancholischen Pop-Hymnen von "Influencer": Mit "Mieses Leben" schlägt Haiyti wieder knallhart auf dem Bordstein auf. "Du kriegst mich von der Street, doch die Straße nicht aus mir", rappt sie im "Intro". Zwischen Langenhorn und St. Pauli sind alle Katzen grau und alle Seelen schwarz. Mittendrin: Haiyti im freien Fall, vorbei an Wolkenkratzern, Schampusflaschen und Heroinleichen.

Dabei kann man den materlalismuskritischen lyrischen doppelten Boden, auf den sich das Feuilleton gerne einschießt, getrost ignorieren. Auch wenn er einem hier an mancher Stelle geradezu ins Gesicht springt ("Ich bin alleine und ich liege hier im Schotter"), funktioniert Haiytis Musik vor allem als oberflächliche Milieustudie zwischen der Sonnen- und Schattenseite des Kiez’ ausgezeichnet. "Weiße Limousine, schwarzes Endorphin": Die Bilder, die einem Ronja Zschoche im Laufe der 40 Minuten ganz beiläufig in den Kopf setzt, sind metaphorische Virtuosität.

Noch beeindruckender ist jedoch, wie sie alle diese Wörter aneinander reiht. Die Flows auf "Mieses Leben" hat man in Deutschland so noch nicht gehört. Nicht, weil noch niemand tief genug im amerikanischen oder französischen Untergrund grub, um sie zu finden, sondern weil sie eigens Haiytis Hirn entsprungen sind. Selbst in Songs wie "Papi Chain" oder "Paris", die noch nicht einmal die zwei Minuten-Marke knacken, bringt die Hamburgerin mehr einzigartige Flows unter, als manche Rapper*innen auf einem ganzen Album.

Sicherlich hört man hier und da Einflüsse von Project Pat ("Freitag") oder einem Valee ("Was Noch") heraus, aber die Hamburgerin gibt sich eben nicht damit zufrieden, deren Trademarks zu kopieren, sondern denkt sie konsequent weiter und versetzt sie in ihren eigenen Kosmos. Wo der musikalische Horizont des Deutschrap-Mainstreams aufhört, fängt der von Haiyti gerade erst an.

Ihre Stimme selbst ist dafür das beste Beispiel. Auf "Erster Tag" bekrächzt sie im Delirium einen Umbruch und einen Neuanfang, und klingt dabei so kaputt, als hätte sie eine Stange Marlboro und eine Flasche Whiskey intus. Wenig später fällt sie mit "Trap OG" wieder in alte Muster zurück und begräbt nüchtern ihre Konkurrenz sechs Fuß unter der Erde. Abschließend erklärt sie mit "Aszendent Trapstar" diesen verwerflichen Ethos zu ihrem Sternzeichen, nur um auf "Wolken" erneut mit all dem zu brechen. Eine Ballade, ein mit Engelsstimme vorgetragener Abgesang auf ein mieses Leben. "Ich bin nicht anders als die Szene", rappt sie. Dann kippt der Beat und Haiytis Stimme folgt den verzerrten Synths auf dem Fuß in den Abgrund.

Auf "Mieses Leben" erzählt sie vom nicht endenden Hunger auf der Suche nach Glück, den auch die dicksten Batzen und der teuerste Schmuck nur temporär stillen können. Ihre Texte sind ein ständiger Drahtseilakt zwischen Flex und Depression, zwischen Action und Tränen, zwischen Gangster und Seelenstriptease. Hayitis Musik ist durchzogen von Kontrasten und von einer Ironie, die auf den zweiten Blick manchmal gar keine ist.

Dazu kommt, dass die Produktion diese Exzentrik und Ambivalenz punktgenau widerspiegelt. Die Producer-Riege, bestehend aus AsadJohn, SOSA, AlexTroy, JUSH und Project X, stellen der Hamburgerin ein ganzes Buffet an erstklassigen Beats zur Verfügung, die sowohl den dreitägigen Kokain-Trip, als auch das grauenhafte Erwachen danach perfekt einfangen - Skyline, Bordstein und alles dazwischen.

Inspirationen ziehen sie dabei aus 90er-Techno, Pop und Drill. Besonders dominant sind jedoch die Einflüsse aus dem amerikanischen Süden. Grummelnder Bass aus Memphis, so tief, dass es einem den Magen umdreht, gehäckselte Samples aus Houston, und klirrende Atlanta-Trap Hi-Hats bilden das Fundament, auf dem fast alle der 18 Tracks aufbauen. Diese neue alte Facette von Haiyti knüpft konsequent an ihr noch unter dem Namen Robbery erschienenes Frühwerk an, zeigt jedoch wie sehr sie seitdem als Künstlerin gereift ist.

"Robbery ist back und es endet mit einem Knall", sagt sie selbst und spannt damit den Bogen in eine Zeit, in der sie als als gefühlt einzige der nach Deutschland überschwappenden Trap-Welle eigene Akzente hinzufügen konnte. Sechs Jahre später hat sich daran nichts geändert. Im Gegenteil: Während sich die Modus Mio-Masse um die letzten Reste prügelt, arbeitet Haiyti bestimmt schon an ihrem nächsten Album. "Zukunftsmusik" wäre ein passender Titel.

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. Robbery Is Back
  3. 3. Snob
  4. 4. OMG
  5. 5. Toxisch
  6. 6. Papi Chain
  7. 7. Helikopter
  8. 8. Freitag
  9. 9. Was Noch
  10. 10. Erster Tag
  11. 11. Paris
  12. 12. Minusmensch
  13. 13. 8 Stunden Arbeit (feat. Kaisa Natron)
  14. 14. Trap OG
  15. 15. Regen Und Niesel
  16. 16. 50/50 (feat. Jace)
  17. 17. Aszendent Trapstar
  18. 18. Wolken

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12 Kommentare mit 85 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    Nach wie vor eine der wenigen ernstzunehmenden deutschen Artists aus dem Genre. Beats sind fast durchweg killer.
    Wie sie es schaft, dieses komplett ausgelutschte Themenfeld aus Drogen, Materialismus und Gewaltfantasien durch Energie, Hunger und mal wirklich spannende Flows nochmal interessant zu machen, finde ich wirklich erstaunlich. Das ist aber dann auch das, was mich von 5/5 abhält. Das ganze Szenario, was sie da entwirft, entwirft sie zwar grandios, ist aber inzwischen so was von totgeritten, dass es fast besser wäre, sie würde in so ner Sigur Ros Fantasie Sprache spitten.
    4/5 aber auf jeden Fall, für mich ihr bestes Release seit Toxic.

  • Vor 3 Jahren

    Helikopter ist vielleicht ihr bester Track überhaupt, Toxisch und Wolken Übersongs. Der Rest plätschert ein wenig hin, guter Flow und killer Beats, aber bei 1:50 Spielzeit wirken die meisten Tracks eher als Skizzen. Wer City Tarif oder Nightliner mochte, wird das hier lieben. Für mich eine 3/5, Sui sui und Montenegro Zero wird sie nur schwer je toppen.

  • Vor 3 Jahren

    "In einer gerechten Welt wäre Haiyti auf der Titelseite des Rolling Stone."
    Kann sie nicht, denn aufs Cover kommen nur zum X-ten mal die Beatles, Springsteen, Prince, Bowie etc. Rolling Stone ist mittlerweile ein Magazin für die 40-80 jährige alte Stoner und Hippies, die eine 10-seitige Reportage über die unendeckten Demos der Beatles lesen wollen.