laut.de-Kritik

Der Mittel- ist der neue Zeigefinger.

Review von

"Gefürchtet von unten, verachtet von oben - das Erbe der Welt quillt aus geplatzten Kondomen." In Zeiten wie diesen erblickt 2012 inmitten eines Sorgenblumenfeldes unter einer Trauerweide Samy Sorges Alter Ego die Welt. Herr Sorge, eine "depressive Frohnatur" in maßgeschneiderten Secondhandklamotten - mit Schminke, Zylinder und Nagellack. Der Herr Deluxe? Jawohl, ihr ignoranten Herrschaften!

Denn wenn Samy eines in all den Jahren nicht war, dann ein Sklave der Erwartungshaltung seiner Fans. Ein Alter Ego in die Welt zu setzen: die logische Konsequenz eines Künstlers, der schon lange 'n Fick darauf gibt, was Medien und Menschen da draußen von ihm wollen. So steigt Herr Sorge - von Herrn Merkl zum Staatsfeind Nr. 1 deklariert - aus den Seelentiefen einer altbekannten Rapikone und sorgt auf der einen Seite für Bewunderung, auf der anderen für Abscheu - und vor allem für Verwirrung.

Den von den Mayas für den 21.12.2012 prophezeiten Weltuntergang haben wir zwar überstanden, aber eigentlich befinden wir uns mittendrin. Klar, dass sich Herr Sorge Sorgen macht. Dabei predigt er nicht mit erhobenem Zeigefinger, alles besser zu machen, sondern reflektiert die Perversionen und Widersprüche der Menschheit ganz nach dem Dogma: "Der Mittelfinger ist der neue Zeigefinger!" "Und ich seh eine ernste Welt durch eine Brille - aus Zynismus, Sarkasmus und reichlich Humor"

Kaum Ufos, nur ein wenig elfter September im "Finale (Wundervolle Welt)". Ansonsten bestehen die "Verschwörungstheorien Mit Schönen Melodien" vor allem darin, sich einig zu sein, im Hedonismus den gelungensten Weg gefunden zu haben, gemeinsam unterzugehen: "Sich so gezielt abzuschießen, wie es ein Sniper tät und es ist kein leichter Weg ... feiern gehen, um uns selber zu zerstören, Musik so laut, dass wir unsere Vernunft nicht hören." Amnesie International. Tanzen, meine Herrschaften! "Tanzen bis die Welt untergeht", denn das tut sie eh.

Soundästhetisch wirkt recht experimentell was Samy, Vito, Jan van der Toorn & Co. da zusammengebraut haben. Ein wenig Kanye, ein wenig Tua, ein wenig RAF 3.0. Uptempo-Passagen und Dubstep-Anleihen treffen auf imposante Bläser- und Streicherarrangements, dunkle, melancholische Bretter, die leider der Überfrachtung mit überdrehten Elektrospielereien wegen eine Menge Löcher bekommen.

Dazu: Autotune vom ersten bis zum letzten Song. Und Autotune auf Albumlänge kostet auf jeden Fall Nerrrrven. Zwarrrrr verrrrzerrrt der Autotune so schön und spiegelt in Kombination mit zerrrrrenden und schepperrrrnden Synthies gelungen die Entfremdung des Menschen von der Natur und überhaupt allem Natürlichen wieder, lässt aber die zweifellos schönen Melodien der Produktionen sowie die Texte nur allzu oft untergehen.

Songs wie "Zukunft Vorbye" oder "Feiern Gehen (Das Leben Ist So Schön)" eignen sich mit Ravesynthies und Schunkel-Hook dennoch erstklassig für die kommende Weltuntergangs-Aftershow-Party. Marsimotos hochgepitschte Stimme erweist sich im Feature als geradezu prädestiniert für fröhliche Weltuntergangsmusik: "Ist mir doch egal, wer da auflegt, heut' Nacht will ich drauf gehen."

Songs wie "Du & Ich" rollen einem aber selbst in Anbetracht des nahenden Endes und mit bunten Tattoos auf der Zunge die Zehennägel auf. "Wer kommt in Zeiten wie diesen nur auf ein Liebeslied?" Herr Sorge. Nur bleibt nach all dem Autotune-Schnulz nichts mehr von der schönen Liebesgeschichte übrig, die vielleicht einmal den Kern dieses Songs bildete.

Ein wenig mehr Zuckerguss aus Willy Wonkas Schokoladenfabrik und bisschen weniger Apokalypsenkrach hätte dem Album an der ein oder anderen Stelle gut getan und Songs wie "Finderlohn" oder "Disassda" zu echten Endzeit-Popsongs gemacht. Das Ohrwurmpotenzial ist vorhanden. Aber das ist dann eben die "unpopuläre Popmusik", von der Herr Sorge selber spricht. Das ist eben "Un-Pop". Das ist eben Kunst.

"In einer Gesellschaft, wo die Menschen dumm sind, dafür alle Telefone so smart / und die Moral und Werte sind nach unten versunken, doch wir schicken die Menschen zu Mars." Diese Reflexionen und Aussagen sind gut und richtig. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass ein Poet, wie Samy zweifellos einer ist, die Entfremdung der Menschheit von sich selbst weniger über maschinelle Sounds als vielmehr in Form überspitzter Poesie reflektiert. Die Figur des Herrn Sorge erscheint noch nicht verkorkst genug, um als sauberes Spiegelbild der Menschheit zu funktionieren.

Ein Flo Mega allerdings schon. Der bringt mit seinem Part am Ende vom "Frustsong" genau das, was von mir aus die ganze Platte hätte füllen können: vollkommen abstruse, hirngefickte Lyrik. "Nachdem ich wie ein Stein geschlafen habe, erinnere ich mich, dass mein sehr langer linker Arm an der Zahnbürste entlang in den Keller langte, um den Presslufthammer zu holen, den ich auf meiner langen Reise als Souvenir eingedealt hatte. Ich muss ihn solange an die Schläfe ballern haben lassen, bis der ganze Apparat irgendwann auf meinen Sisalteppich bröselte, dann denke ich plötzlich: Ärsche zu Ärsche und Dunst zu Dunst."

Auch die Gedichte von Herrn Sorge "Zukunft Vorbye", "Idiokratie" und besonders "Los Ziehen" ("Sind Sie stillos, ziehen Sie ein Stil-Los, sind Sie hoffnungslos, ziehen Sie ein Hoffnungs-Los, sind sie gerade rastlos, ziehen Sie ein Rast-Los. Was los?") überzeugen mit humoristischem und lyrischem Können. Megaloh - eh der Straßenpoet in persona - haut auf "Punkt (Die Welt Ist Gefickt)" ebenso ordentlich einen raus: "Artensterben, bald nur noch Schafe in Herden und Säue vor Perlen, wir folgen ihnen wie leuchtenden Sternen".

Kostüm und Konzept der Kunstgestalt Herr Sorge hätten Samy den Freiraum gelassen, sich als Lyriker in Szene zu setzen, mit gewaltigen Bildern zu glänzen oder gänzlich alles ad absurdum zu führen. So kratzt er doch manchmal etwas seicht an der Oberfläche. Die Satire gerät zu vorhersehbar und beschränkt sich in dem, was sie als Kunstfigur und Alter Ego hätte Bahn brechen können, einer gewissen Unbeweglichkeit wegen leider selbst.

Herr Sorge hätte mit der Picasso-Postkarte einfach einmal ordentlich durchziehen müssen. Hätte das Album mehr auf Poesie und weniger auf ein übermanieriertes Soundkostüm gesetzt, wäre es leichter gefallen, es als Kunstwerk, das es ist, gebührend zu feiern. Aber "kurzer Sinn, lange Rede: Kunst zu Kunst, "Ärsche zu Ärsche und Dunst zu Dunst."

Trackliste

  1. 1. Fröhliche Weltuntergangsmusik
  2. 2. Diesassda
  3. 3. Zukunft Vorbye - Gedicht
  4. 4. Zukunft Vorbye
  5. 5. Mobilee
  6. 6. Herz Gebrochen (Scherben)
  7. 7. Lebenlang
  8. 8. Los Ziehen - Gedicht
  9. 9. Finderlohn
  10. 10. Frustsong
  11. 11. Das Leben Ist So Schön (Feiern Gehen)
  12. 12. Idiokratie - Gedicht
  13. 13. Idiokratie
  14. 14. Amnesie International
  15. 15. Du & Ich
  16. 16. Punkt (Die Welt Ist Gefickt)
  17. 17. Nachtmusik
  18. 18. Verschwörungstheorien Mit Schönen Melodien
  19. 19. Finale (Wundervolle Welt)

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