laut.de-Kritik

Zur #metoo-Bewegung tanzen? Ein Aufschrei in neun Songs.

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Es geschah vor zwei Jahren in Stockholm. Mehr möchte Jenny Wilson dazu öffentlich nicht sagen. Und mehr gibt es dazu auch nicht zu sagen, denn das Thema findet auf schauerlich direkte Weise Eingang in die Texte ihres fünften Studioalbums "Exorcism". Die schwedische Avantgarde-Pop-Musikerin hat die traumatischen Erfahrungen eines sexuellen Übergriffs und dessen Folgen vertont.

Zuvor musste sie eine Phase der völligen Paralyse samt einhergehender Kreativblockade überwinden. Dennoch ahnte Jenny Wilson selbst in dieser schwierigen Zeit: Sie muss dieses furchtbare Erlebnis in irgendeiner Form mit ihrer Kunst verweben, auch verbunden mit der Hoffnung, die eigene Sprachlosigkeit dadurch zu überwinden. Nun liegt das Ergebnis vor, passend "Exorcism" betitelt. Neun Songs gegen die inneren Dämonen, eine persönliche Geschichte, ganz bewusst für die Öffentlichkeit zubereitet. Ein Schritt, der der vermeintlichen Opferrolle die Stirn bietet und nach Katharsis strebt, frei nach dem Motto "You can't keep a good woman down".

Nüchtern wie der Songtitel perlen ihre ersten Worte im Opener "Rapin*" auf die rasch fröstelnde Haut: "Late at night / walking home / too drunk / been dancing / at a club / out of town / beam me up / take me down / did you pick me cause there's nobody around?" Zunächst flüstert sie noch zu den eisigen Minimalsounds aus einem Analogsynthesizer, der monoton und träge vor sich hin surrt. Dann findet sie ihre Stimme, das Tempo zieht an, und Wilson kommt zur gefürchteten Szene, über der die bange, von Vergewaltigungsopfern häufig gestellte Frage kreist: "What happened after this?"

Als wäre dies nicht schon anschaulich genug, beschreibt Wilson anschließend den Moment des Schwangerschaftstests, eine Türklingel unterbricht den Soundflow - Stille - Wilson ängstlich: "I'm not at home". Die beklemmende Story bastelt die zweifache Mutter in einen Hybrid aus frühem Fad Gadget und schiebender The Knife-Theatralik, woraus einer ihrer leisesten Dance-Track resultiert. Nur: Darf man zur #metoo-Bewegung etwa tanzen?

Die Weinstein-Affäre sei im Oktober 2017 mitten über ihre Arbeit an der Platte hereingebrochen und habe sie immens beflügelt, so Wilson in einem Interview. Die öffentliche Debatte über Frauenrechte hätte in Schweden schnell sämtliche Milieus erreicht, von Kultur über Sport bis in öffentliche Ämter und private Haushalte. Ein Album wie "Exorcism" treibt dieses Thema weiter vor sich her, mit einer im Pop nicht gekannten Präzision.

Sehr anschaulich macht Wilson deutlich, dass weibliche Unversehrtheit ein Grundrecht ist und männliches Raubtierverhalten nicht tolerabel. "Close my eyes / can't verbalize / trapped, oh god I'm paralyzed", heißt es in dem etwas Licht ins dunkle Elektro-Umfeld werfenden "Lo Hi", das an Wilsons luftiges Pop-Album "Love & Youth" von 2006 erinnert.

Das zäh blubbernde "Disrespect Is Universal" macht schon im Songtitel klar, was die größte Gefahr jedes potenziellen Sexualdelikts darstellt: Es kann jede und jeden aus jeder Richtung treffen. Belästigung kennt kein einheitliches Gesicht ("Who am I? I am anyone / just like he who raped me"). In "The Prediction" wirft Wilson dann das Strobo an, alles flimmert und flackert, Rhythmen überlagern sich, der mantraartige Schrei "You can't decide over your life" illustriert eine hilflose Passivität und thront über chaotischem Minimaltechno, dem gleich darauf mit "It Hurts" die Pop-Hymne des Albums folgt.

Wilsons "Take The Power Back" ist selbstverständlich der Titeltrack: In "Exorcism" macht sie ihrem Peiniger klar, dass sie sich der Herausforderung stellt, indem sie die Geschichte publik macht, zur Not auch dessen Adresse herausfindet, bis all die schlechten Gefühle verschwinden. Geht mir ihr Sprechgesang oft zu sehr in Richtung Princess Superstar, bleibt sie bei den gesungenen Passagen dank ihrer speziellen stimmlichen Klangfarbe weiterhin die Roisin Murphy Schwedens.

Ihr Gespür für versponnen-verspielte Melodien hat sie trotz aller thematischen Tragik auch nicht verloren. Wer keine barocken Arrangements im Synthie-Pop benötigt, erhält hier ein aufs Allernötigste reduziertes Bündel an fesselnden Melodien. Nachdem das letzte Album "Demand The Impossible!" Jenny Wilsons Kampf gegen Brustkrebs begleitete, schlägt die Sängerin mit "Exorcism" ein Kapitel auf, zu dem man sich erst gar keinen Epilog vorstellen mag. Was man indes weiß ist: Ein Album wie "Exorcism" ist 2018 leider wichtiger denn je.

Trackliste

  1. 1. Rapin*
  2. 2. Lo Hi
  3. 3. Disrespect Is Universal
  4. 4. The Prediction
  5. 5. It Hurts
  6. 6. Your Angry Bible
  7. 7. Exorcism
  8. 8. It's Love (And I'm Scared)
  9. 9. Forever Is A Long Time

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