laut.de-Kritik

Kernige Riffs füllen das Mythen-durchwirkte Konzept mit Leben.

Review von

Jethro Tull sind immer für Überraschungen gut. Nicht nur, weil die britischen Flower Progger Metallica 1989 den sicher geglaubten Grammy in der Kategorie "Best Hardrock/Metal-Performance" vor dem Schnauzbart weggeschnappt haben. Nun bringen die Mannen um Urgestein Ian Anderson bereits ihr zweites Album innerhalb von zwölf Monaten heraus. Anderson scheint aus einem besonderen Flötenholz geschnitzt. Wie sonst ist zu erklären, dass der 75-Jährige vital und kreativ agiert wie manche halb so alten Mucker .

Nach dem grimmig dreinschauenden Porträt auf "The Zealot Gene" haben wir es auf "RökFlöte" mit einer an Höhlenmalerei angelehnten Karikatur in eindeutiger Pose zu tun. Ein Schelm, wer hier nicht an Flöten-Flamingo Ian Anderson denkt. Stand das Buch der Bücher auf dem Vorgänger im Mittelpunkt, stellen nun nordische Mythologien den konzeptuellen Überbau.

Adam und Eva waren gestern, heute heißt es Edda bei die Fisch. Der Ur-Riese Ymir taumelt Ragnarök entgegen. Womit wir bei den Umlauten im Albumtitel sind. Doch anders als die Rumpel-Rocker von Motörhead oder die Rüpel von Mötley Crüe stehen Jethro Tull für feingliedrigen Folk-Prog, und dies bereits seit 1967, nachzulauschen auf Meilensteinen wie "Aqualung" und "Songs From The Wood".

"RökFlöte" bringt die beiden Pole Folk und Rock im Vergleich zum Vorgänger wieder zusammen. Präsentierte "The Zealot Gene" bisweilen ein Nebeneinander der Stile, flechtet Anderson auch als Nebenprodukt der Post-Corona-Zeit den Bandsound stärker ein. "The Perfect One" fängt dieses Diktion wie eine Blaupause ein. Im flotten "The Navigators" verspürt der Hörer einen ähnlichen Zug wie beim Band-Standard "Locomotive Breath".

Trotz der Assoziation mit Prog verbleibt die Formation im Song-Format. Natürlich gibt es Soli, doch ufern diese niemals aus. Auf zusätzliche Parts verzichtet das Quintett ganz. "Allfather" kommt entschlackt und auf den Punkt gebracht unter drei Minuten ins Ziel.

Das Zusammenspiel und der Beitrag der Gitarren verzücken immens. Dabei könnte der 1995 geborene Saitenflitzer Joe Parrish-James der Enkel von Anderson sein. Da Parrish-James in seiner noch nicht allzu lang zurückliegenden Jugend von Iron Maiden beeinflusst wurde, die wiederum, wie Steve Harris bezeugt, einen starken Einschlag von Jethro Tulls Melodieführung aufweisen, wundert es wenig, dass neben den charakteristischen kontrapunktischen Kämpfen mit der Flöte zahlreiche kernige Riffs das Mythen-durchwirkte Konzept mit Leben füllen. Der blass wirkende 28-jährige Guitar Hero beweist, dass man für Rock keine behaarte Brust benötigt.

"Hammer On Hammer" vollzieht den Schwenk von den Göttern des Krieges hin zu neuzeitlichen Zerstörern. Auch wenn der derzeitige russische Präsident nicht namentlich genannt ist, ist klar, wer mit "Vlad, the bad" gemeint ist. "Sabres rattle, pipelines tremble" sind in den Lyrics eindeutige Hinweise auf die Aggression des Angriffskriegs und die Wirtschaftssanktionen. Parrish-James soliert dem Untergang entgegen, der martialisch und bildgewaltig im dazugehörigen Video inszeniert wird.

Trackliste

  1. 1. Voluspo
  2. 2. Ginnungagap
  3. 3. Allfather
  4. 4. The Feathered Consort
  5. 5. Hammer On Hammer
  6. 6. Wolf Unchained
  7. 7. The Perfect One
  8. 8. Trickster (And The Mistletoe)
  9. 9. Cornucopia
  10. 10. The Navigators
  11. 11. Guardian's Watch
  12. 12. Ithavoll

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8 Kommentare mit 24 Antworten

  • Vor 11 Monaten

    Sowas braucht doch heute kein Mensch.

  • Vor 11 Monaten

    Mein ersten Eindrücke zum Album: Da prasselt unglaublich viel auf einen ein, erstaunlich bei der relativen Kürze der Songs.

    Frage mich gerade, wieso ich bisher noch kein Review gelesen habe, in dem erwähnt wird, das auch musikalisch Motive wieder aufgegriffen werden und es deshalb umso mehr ein Konzeptalbum ist?

    Auch wenn Anderson selbst sagt "wer Zealot mochte, wird auch Röckflöte" mögen, finde ich die beiden Alben von der Herangehensweise sehr unterschiedlich, fast wie Tag und Nacht und das beste ist, mir gefallen beide, auch wenn Röckflöte vermutlich in der Langfrist die Nase vorn hat.

  • Vor 11 Monaten

    Ich las soeben die Rezension im ROCKS und wollte mal schauen, was laut.de dazu so schreibt. Ich war etwas irritiert, dass die Texte teilweise identisch sind, mag vielleicht daran liegen, dass auch die Kritikernamen identisch sind :trusty:

    Überdurchschnittlich gutes Album. Ich messe alles an meinem liebsten Album Roots To Branches. Ich bin vielleicht der einzige reine 90er-Jahre-Jethro-Tull-Fan.