laut.de-Kritik
So einfach und wirkungsvoll erklingt die Urangst.
Review von Dominik LippeJohn Williams' Filmmusik ist generationsübergreifend verständlich. Sie korrespondiert ideal mit der Abenteuerlust von Steven Spielbergs oftmals kindlichem Unterhaltungskino, das ihm seit 50 Jahren die Arbeitsgrundlage liefert. Die erhabenen Scores rufen geradezu danach, den Bildern zu folgen, um E.T. zu Hilfe zu eilen, mit Indiana Jones den Tempel des Todes zu erkunden oder eine Besichtigung im Jurassic Park zu buchen. Dabei kann es gelegentlich eng werden, aber echte Gefahr besteht im Grunde nicht. In diesem fröhlichen Reigen des Eskapismus bildet "Der Weiße Hai" eine Ausnahme.
Als sich Williams und Spielberg 1974 zu ihrem zweiten Projekt nach "Sugarland Express" trafen, durchlebten beide gerade Krisen. Der Regisseur sah sich enormem Druck ausgesetzt. Statt Angst und Schrecken zu verbreiten, erwies sich der mechanische, auf den Namen "Bruce" getaufte Hai als nur bedingt einsatzfähig. Unterdessen verdreifachte sich das vorgesehene Budget für "Der Weiße Hai". Der Komponist wiederum hatte mit einem privaten Unglück zu kämpfen. Seine Ehefrau, die Sängerin Barbara Ruick, war kurz zuvor im Alter von 43 Jahren an einer Hirnblutung verstorben.
Williams suchte nach einem passenden musikalischen Thema für den Hai. Zwar hatte ihm Spielberg einen melodischen Score vorgeschlagen, doch der Komponist erkannte, dass sich die einfachste Idee zugleich als die wirkmächtigste herausstellte. Zwei sich abwechselnde Noten, die sich "instinktiv, unerbittlich, unaufhaltsam" wie ein Raubfisch fortbewegen, sollten die Urangst spiegeln. Als der Regisseur das Hauptmotiv erstmals am Piano vorgespielt bekam, glaubte er an einen Witz. Die Effektivität erschloss sich ihm erst, als Tommy Johnson die volle Bedrohung mit der Tuba entfaltete.
Spielberg verglich die Wirkung von John Williams' Motiv mit Bernard Herrmanns Arbeit für Hitchcocks "Psycho". Und wie bei dem 15 Jahre zuvor erschienenen Soundtrack fanden sich zahlreiche Interpretationen für das Motiv. Zum einen repräsentiert es die räumliche Annäherung. Wenn die Bestie ihr Ziel ansteuert, beschleunigt sich das gleichsam primitive Thema. Zugleich gibt es den Erregungszustand des Hais wieder, dessen Blutdruck und Pulsschlag in Erwartung seiner Beute in die Höhe schnellt. Alternativ codiert die Musik für die ansteigende Atemfrequenz des nervösen Kinopublikums.
"Der Weiße Hai" konditioniert seine Zuschauerinnen und Zuschauer ab der ersten Einstellung. Ein POV-Shot aus Sicht der noch unbekannten Gefahrenquelle treibt zum "Main Title" suchend durch die Unterwasserwelt. Das Zwei-Noten-Thema verkörpert das Raubtier, auch wenn es mehr als eine Stunde dauert, bis es sich in nennenswerter Weise zeigt. Auf die Einführung folgt ein harter Schnitt auf eine Gruppe Jugendlicher, die betont klischeehaft mit Akustikgitarre und in libidinöser Laune am Strand um ein Lagerfeuer sitzen.
Die junge Chrissie lockt ihren betrunkenen Begleiter weg von der Gruppe, zieht sich aus und verschwindet im Meer. Sirenengleich ruft sie ihn zu sich. Von unten fängt die Kamera die nackte Frau vor dem Gegenlicht des scheinenden Mondes ein. Die sanften Harfenklänge scheinen die Sicht des Publikums zu repräsentieren, dabei leiten sie fatalerweise "Chrissie's Death" ein. Längst befindet sich der Hai unter ihr. Sein musikalisches Thema konkurriert mit den harmonischen Klängen, bis er zuschnappt und ein auditives Chaos ihren Todeskampf untermalt, das wie ihr Leben abrupt endet.
Als die Leiche auftaucht, tritt der von Roy Scheider gespielte Polizeichef Martin Brody auf den Plan. Er will den Strand des Badeortes Amity umgehend sperren, scheitert aber am Widerstand des Bürgermeisters, der vor allem Angst um den einträglichen Unabhängigkeitstag hat. Die dargestellte Kollision zwischen dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung und den Wirtschaftsinteressen lässt sich problemlos auf aktuelle Krisen übertragen, etwa wenn Brody nachdrücklich appelliert: "Wenn wir es sofort anpacken, dann haben wir eine Chance, wenigstens den August zu retten."
Zum ironisch betitelten "Promenade (Tourists On The Menu)" treffen Heerscharen von Besuchern beschwingt in Amity ein. Als es zu einem weiteren Todesfall kommt, nimmt der Polizeichef das Problem selbst in die Hand. Gemeinsam mit dem derben Quint und dem Wissenschaftler Matt Hooper begibt er sich auf die Jagd nach dem Großen Weißen. "Out To Sea" vermittelt den Aufbruch ins harmlose Abenteuer, das sich bald zu einem Kampf auf Leben und Tod entwickelt. Williams untermalt die Schlacht rasant mit "Sea Attack Number One" und "One Barrel Chase".
Der weitere Kampf schwankt zwischen optimistischen Bemühungen ("Preparing The Cage") und Rückschlägen ("The Underwater Siege"), bis Brody zum treibenden "Hand To Hand Combat" im finalen Gefecht den entscheidenden Schuss platziert, der den Hai in seine Einzelteile zerlegt. So findet das Böse sein Ende und die beiden überlebenden Crew-Mitglieder paddeln einträchtig zum versöhnlichen "End Title" nach Hause. Der eindeutige und damit auch naive Schluss nimmt den Märchencharakter späterer Filme Spielbergs vorweg.
Mit einem Einspielergebnis von 470 Millionen US-Dollar gilt "Der Weiße Hai" heute als Begründer des Sommer-Blockbusters. Der Erfolg zementierte die berufliche Partnerschaft von Spielberg und Williams. "Ich denke, die Partitur war eindeutig für die Hälfte des Erfolgs des Films verantwortlich", würdigte der Regisseur später seinen Weggefährten. Unabsichtlich leitete er damit das Ende des New Hollywood ein. Gegen die schiere kommerzielle Übermacht von "Jaws" und des zwei Jahre später beginnenden "Krieg der Sterne" soffen die menschlichen Dramen der Antihelden zusehends ab.
Der Komponist wurde für seinen Beitrag zu "Der Weiße Hai" mit dem Oscar, dem Golden Globe und dem Grammy ausgezeichnet. 2005 wählte das American Film Institute den Soundtrack hinter Nino Rotas "Der Pate", Bernard Herrmanns "Psycho" und Maurice Jarres "Lawrence Von Arabien" auf Rang sechs der besten amerikanischen Filmmusiken des Jahrhunderts. John Williams honorierte "Jaws" vergleichsweise bescheiden als "Starthilfe für seine Karriere". In Wahrheit markierte der Film den Ausgangspunkt für unzählige strahlende Kinderaugen und etliche Meilensteine.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare mit 2 Antworten
Wichtiger Soundtrack, aber Hitchcocks Psycho macht mir mehr Angst im Dunkeln. Kann ich definitiv heute noch nicht die Augen beim Hören zu zu machen!
https://www.youtube.com/watch?v=is2sgWRK7D0
Review ist gut geschrieben, ma sagen!
Dem kann ich nur zustimmen. Ein wirklich grandioser Text, sprachlich wie inhaltlich!
Vielen Dank euch beiden!