laut.de-Kritik

Mutmach-Phrasen, die einer Gehirnwäsche gleichen.

Review von

Die 25-jährige Poetry-Slammerin, Dichterin und Schauspielerin Julia Engelmann, die laut eigenen Angaben "mal hier, mal dort" lebt, bezeichnet man, seit ihre Umdichtung von Asaf Avidan & The Mojos' "One Day (Reckoning Song)" vor drei Jahren im Netz große Wellen geschlagen hat, als die "Stimme einer Generation". Nun will sie mit ihrem Debüt "Poesiealbum", das zugleich auf einem großen Major-Label erscheint, nach den Spiegel-Bestsellerlisten auch die deutschen Albumcharts stürmen. Dies dürfte ihr mit diesem Werk ohne Zweifel gelingen.

Die Single "Grapefruit" der gebürtigen Bremerin hat bisher über 1,4 Millionen Klicks gesammelt. Dort erzählt sie von Depressionen und beschwichtigt: "Komm wir machen mal das Fenster auf, das Radio laut." Eine für die Betroffenen und Angehörigen sehr schwerwiegende Krankheit, die mitunter sogar tödlich endet, kann man jedoch nicht mit Tipps wie, dass man einfach eine "Grapefruit zum Frühstück" isst, verharmlosen. Dabei hat Julia Engelmann kürzlich erst ihr Psychologiestudium abgebrochen. Bezüglich dieser Thematik hätte man von ihr durchaus mehr Reflexionsvermögen und Empathie erwartet.

Der Text zu "Grapefruit" stammt aus ihrem Buch "Jetzt, Baby". Zwölf ihrer bisher geschriebenen Gedichte hat sie für dieses Album eingesungen. Die Produzenten Ali Zuckowski, der in der Vergangenheit schon mit Max Giesinger zusammengearbeitet hat sowie Benjamin Bistram, zuständig für YouTube-Eintagsfliegen wie ApeCrime, sorgen dafür, dass die Musik so bieder und vorhersehbar wie eine Folge der RTL-Soap "Alles Was zählt" daherkommt. Die Tochter einer Psychologin und eines Logistik-Managers hat ja schließlich zwei Jahre lang in dieser Serie mitgespielt.

Man nimmt in den einzelnen Songs, die meistens in einem euphorischen Refrain münden, hier eine dezente Akustikgitarre oder dort ein paar leichtfüßige Pianoakkorde wahr. Tim Bendzko und Mark Forster haben diese Versatzstücke schon deutlich schlechter präsentiert. Tracks wie "Sowas Wie Magie" und "Cliffhanger" zielen mit ihrer treibenden Rhythmik auf die Tanzfläche. Die Stimme der 25-Jährigen besitzt außerdem eine naive, aber überaus rauchige, sympathische Note, die an Ina Müller erinnert. Letzten Endes täuscht die harmlose Soundkulisse nicht darüber hinweg, dass man sich vierzehn Nummern lang einer schweren Gehirnwäsche ausgesetzt fühlt.

Schon der Opener "Grüner Wird's Nicht" handelt von Selbstbestimmung und der Suche nach Glück. So ermutigt sie: "Nimm all die Steine aus dem Weg". Später singt sie: "Denk nicht so viel darüber nach, dann brauchst du keinen anderen Rat". Im weiteren Verlauf dieser Platte baut sie ihre Hörer in Existenzkrisen auf und sagt, dass sie irgendwann vorübergehen, wenn man fest an sich glaubt. Über viel Selbstvertrauen verfügen die Charaktere in ihren Lyrics anfänglich nicht. In "Kein Modelmädchen" macht sie uns dagegen weiß: "Ich bin komplett unperfekt." Sie ergänzt: "Reicht es denn nicht, wenn ich mich selber like." Alle Probleme lassen sich für die Slammerin mit nur einem Klick lösen.

Somit hat diese Scheibe eine Menge mit den Lebensratgebern gemeinsam, die man oftmals in Bestsellerlisten im Printbereich auf den vorderen Rängen sieht. Die Menschen, die betonen, dass man in den grauen und düsteren Phasen seiner Existenz keineswegs den Kopf hängen lassen soll, bietet sie genau das, was sie hören möchten. "Lass Mal Ne Nacht Drüber Tanzen", heißt es bei Julia Engelmann.

"Bestandsaufnahme" gleicht gar einem vertonten Aufbau- und Motivationstraining. Alle positiven und negativen Punkte bezüglich des eigenen Selbstbildes braucht man daher nur gegenüberzustellen und abzuwiegen. "Ich hab' tausend Gründe zum Lachen, bloß einen zum Weinen und vor allem so viel zum Gewinnen", resümiert der oder die Ich-Erzähler/in. Laut Engelmann muss man sich nur seiner eigenen Stärken bewusst werden. Einst haben Die Ärzte aus Berlin ironisch und albern verlautbaren lassen: "Hipp, hipp, hurra! Alles ist super, alles ist wunderbar." Bei Julia muss man diese Zeilen allerdings wortwörtlich verstehen.

Im Grunde hat "Poesiealbum" musikalisch nicht mehr als kalkulierten, aber zumindest akzeptablen und handwerklich sauberen Deutsch-Pop vorzuweisen. Demgegenüber kann man die wenig tiefschürfenden, erbaulichen Ratschläge und Lebensweisheiten wahrlich keine dreißig Sekunden ertragen. Für die Slammerin lassen sich ohnehin alle Ängste und Sorgen vergessen, wenn man wie in "Lass Mal Ne Nacht Drüber Tanzen" bis früh "electroswingt." Der eigenen Unentschlossenheit hält sie weiterhin in "Grüner Wird's Nicht" entgegen: "Es gibt absolut nichts Gutes, außer du gehst los und tust es." Man möchte sich nach dem Hören dieser Platte umgehend in ärztliche und psychologische Behandlung begeben.

Trackliste

  1. 1. Grüner Wird's Nicht
  2. 2. Das Lied
  3. 3. Stille Poeten
  4. 4. Kein Modelmädchen
  5. 5. Sowas Wie Magie
  6. 6. An Den Tag
  7. 7. Lass Mal Ne Nacht Drüber Tanzen
  8. 8. Ich Kann Alleine Sein
  9. 9. Bestandsaufnahme
  10. 10. Keine Ahnung, Ob Das Liebe Ist
  11. 11. Cliffhanger
  12. 12. Jetzt
  13. 13. Kleiner Walzer
  14. 14. Grapefruit

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24 Kommentare mit 55 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    Okay, Album ist Schrott. ABER: nur zur Dramatisierung und zum Zwecke des möglichst heftigen Verrisses, wird Sebastian Bistram, AUSSCHLIESSLICH auf Apecrime Blödsinn reduziert. Dass der gute Biztram allerdings Haus- und Hofproduzent von Redaktionslieblingen, wie Prinz Pi und unter anderem Maeckes etc. ist, wird mal eben locker unter den Teppich gekehrt. Album 1/5, Toni Hennig allerdings ebenfalls.

  • Vor 7 Jahren

    Vorhin hatte ich Schluckauf. Nach vier Songs dieses Albums nun nicht mehr. Danke Julia Engelmann!

  • Vor 5 Jahren

    Wenn ich die ganzen Kommentare hier lese inklusive der Kritik, dann frage ich mich immer, warum setzen sich Menschen hin und schreiben über ein Werk, das sie vollständig bescheuert finden. Was ist das für eine Motivation?
    Jetzt habe ich mir "Grapefruit" zweimal angehört. Wo bitte, geht es denn hier um Depression? Depression ist eine anerkannte Krankheit, die therapeutischer Hilfe bedarf. Was hier besungen wird, ist ein Mensch, der an sich zweifelt, so wie Menschen das schon einmal tun, vor allen Dingen in der Pubertät (einige von euch werden sich vielleicht erinnern) oder eben auch später, wenn man nicht genau weiß, wo man im Leben steht. Genau das besingt Sie hier. Ob eine Grapefruit das geeignete Mittel ist, um wieder besser drauf zu kommen, das weiß ich jetzt nicht. Aber das ist doch auch völlig egal.
    Was ich in allen Kommentaren sehe, ist der wohlfeile Versuch, in das Bashing von Julia Engelmann einzutreten und eben auch damit auf sie einzutreten. Nebenbei bemerkt ist die von ihr abgewandelt verwendete Zeile "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es." von Erich Kästner, der weit entfernt von Trivialität war.
    Eine gute Freundin von mir hätte dafür für die hier geäußerten Sentenzen nur ein Wort: hobbylos.