laut.de-Kritik

Das Folk-Album des noch jungen Jahres.

Review von

"I'm Not Going Anywhere" lügt Keren Ann dreist im Opener, der gleichzeitig der bezauberndste Song ihres an reizvollen Kompositionen wahrlich nicht armen neuen Albums ist. Denn wäre die Welt eine gerechte, führte der Weg dieser jungen Französin schnurstracks in den Songwriter-Himmel.

Sachte zupft sie die Akustikgitarre, setzt behutsam ihre verträumte Stimme ein und überrascht im Refrain mit mehrstimmigen Harmonien. Spätestens aber wenn das wehklagende Cello einsetzt, ist der Zeitpunkt gekommen, wo Tränensäcke drücken und sich sämtliche einsamen Kreaturen zur Austreibung der Seelenpein winselnd in die Arme fallen.

Den Weg zu derlei hemmungsloser Melancholie ebnet uns Keren Ann, eine 29-jährige und bildhübsche Sängerin aus Paris, die in ihrer Heimat bereits ein leuchtendes (Nouvelle Chanson-)Sternchen ist. Dort kooperierte sie für ihre ersten beiden, in französischer Sprache verfassten Alben mit Benjamin Biolay und avancierte mit ihm prompt zum musikalischen Lieblingsthema der erhabenen Feuilletons. Dank "Not Going Anywhere" kommt nun auch das restliche Kontinentaleuropa in den Genuss ihrer garantiert spinnwebenfreien Folkvariante, die auch auf englisch so gut wie keine Ausfälle aufweist und von so schlichter Ausprägung ist, wie Madames unbeflecktes, porentief reines Nachtgewand.

Abgeklärte Ruhe kennzeichnen die elf Songs, wer will, darf Anleihen des frühen Dylan heraushören, häufig gezogene Vergleiche mit Joni Mitchell verbieten sich dagegen aufgrund Anns fragilem, unprätentiösem Organ. Eher fühlt man sich an eine kammermusikalische Vorstellung erinnert: klar artikulierte und sparsam eingesetzte Instrumente schmiegen sich äußerst stilvoll an einen intensiven Gesangsvortrag. Schön nachzuhören in "Polly", übrigens kein Nirvana-Cover (wobei Keren dies sicher ebenso stilsicher hinbekommen hätte wie kürzlich Dani Siciliano): wie von unsichtbarer Hand gelenkt, steuert die zarte Gitarrennummer nach und nach in ein furioses Blechbläser-Arrangement hinein.

Ein wenig zu pathetisch färbt Ann eigentlich nur den Schluss von "End Of May", den ein hoher Chorgesang ausklingen lässt. Ansonsten gelingt ihr so ziemlich alles: Das phrasierte "Road Bin" begeistert mit knackendem Blues-Solo, "Sailor & Widow" ist der beinahe durchweg gesprochene, kauzige Pop-Song des Albums, und beim Wellenrauschen in "Sit In The Sun" schwelgen wir träge in Fernweh. Ohne das unnötige "Right Here & Right Now" hätte es locker die volle Punktzahl für "Not Going Anywhere" gehagelt.

Dennoch: Hier macht eine Frau auf sich aufmerksam, die weder bekannte Chanson-Namen wie Biolay, noch hoch trabende Stil-Vergleiche zu Ikonen wie Mitchell oder Carole King scheuen muss. Vielmehr liefert Keren Ann das Folkrock-Album des noch jungen Jahres ab.

Trackliste

  1. 1. Not Going Anywhere
  2. 2. Polly
  3. 3. Road Bin
  4. 4. End Of May
  5. 5. Sailor & Widow
  6. 6. Sit In The Sun
  7. 7. Right Now & Right Here
  8. 8. Seventeen
  9. 9. Spanish Song Bird
  10. 10. By The Cathedral
  11. 11. Ending Song

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