laut.de-Kritik

Hass, Liebe, Schmerz, Glück - ein existenzialistisches Manifest.

Review von

Welcher Szene man Kesha zuordnen soll, fragt man sich nur ein paar Töne lang. Auch wenn "Gag Order" die Frage nicht beantwortet, wird die Schubladen-Suche schnell unwichtig. Die Kalifornierin, heute in Nashville, erfüllt eine kommerziell selten genutzte anthropologische Funktion von Musik: zugleich die Hörer*innen und sich selbst zu therapieren.

Mental Health wurde in den letzten drei Jahren immer wichtiger, als hätten die Lockdowns zur Besinnung beigetragen. Macklemore arbeitet seinen Substanzmissbrauch auf, Nessa Barrett ihre Essstörung und Suizidalität, Halsey dagegen werdendes Leben und ihre Rolle als Mama, Raye eine Essstörung, Date Raping, Ausbeutung und mehr, Christine And The Queens Gender-Identitätssuche und den Druck, funktionieren zu müssen. Selena Gomez war zwar Jahre vorm Lockdown schon der Prototyp, um die eigene Psyche im Popsong auf den Prüfstand zu stellen. Flowinimmos Texte aus der Psychiatrie sind ein Klassiker-Beispiel dafür, dass das auch auf Deutsch gut geht.

Kesha durchforstet jetzt die Kunst des Loslassens ("Happy"), die Aufforderung, dass ihr*e Ex sie hassen soll ("Hate Me Harder"), Sinnsuche, Selbstliebe und Mood Management ("Peace + Quiet"), innere Leere, verschwendete Lebenszeit, Torschlusspanik und Ego-Probleme ("Too Far Gone"), paranoide Angststörung ("The Drama"), Trauer über ihren toten Kater und was er für ihr Leben bedeutet ("All I Need Is You"), Spiritualität ("Only Love Can Save Us Now"), sexuelle Übergriffe, emotionale und verbale Gewalt durch ihren früheren Produzenten, der sie des Vertragsbruchs und der Verleumdung beklagt hat ("Fine Line"). Die weiteren Songs behandeln krankhafte innere Anspannung ("Living In My Head"), übersinnliche Wahrnehmung und Selbsthass ("Eat The Acid") und Borderline-Symptome mit depressiver Krise ("Something To Believe In"). Jeweils in einer leicht verständlichen Sprache, in einfachen, klaren Worten.

Die Musik dazu: "Peace + Quiet" ist mal was charmant Innovatives und blitzt ganz selbstverständlich auf, obwohl es soundtechnisch und formal noch die schrägsten Tracks aus M.I.A.s und Santigolds letzten Alben an die Wand drängt. Hier gelingt die Quadrierung des Kreises: Hyperpop-Micky Maus-Vocal Layers treffen auf südafrikanisch inspirierten Vampire Weekend-Rhythmus. Fein dosierte, aber explosive Rico Nasty-Schärfe hüllt sich in wohlig-wolligen Schafspelz-Pop. Kesha zeigt die Rap-Roots ihrer Sozialisation, vielen Dank an Hudson Mohawke für seinen unkonventionellen Rebel-Rap-Input. Prince'sche Neo-Funkyness aus seiner NPG-Symbol-Phase in den frühen Nineties umschlingt diese Mischung: ein Oxymoron der sanften Wildheit.

"Hate Me Harder" umgibt den theatralen Vortrag mit einem Hauch Instrument-Kontur, den man kaum hört. Die Vocals stehen für sich: Sie vereinen durchdringende, gleichwohl brüchige Gefühligkeit mit rotzigem Schmettern. Beinahe Acapella, treten nur ein bisschen Grundrauschen und dezente Klavier- und Keyboard-Tupfer auf.

"Eat The Acid" (sic!) besticht durch Kontemplation am E-Piano und einen leichtfüßig schwebenden, dabei durchaus kraftvollen und natürlichen Gesang auf einem Text, der's richtig heftig in sich hat. Weswegen die Vocals am Ende auch durch Verzerr-Effekte und umgekehrtes Auto-Tune gezogen werden. Klarer als Kesha kann man kaum singen, reiner treffen nur wenige Pop-Acts ihrer Generation die Töne. Sie beschloss aber mit Producer Rick Rubin, das Naturbelassene ab und zu kaputt zu häckseln. In "Only Love Can Save Us Now" posiert sie in den Strophen als Hardcore-Rapperin vom ältesten Oldschool-Schlag. Im Refrain stimmt sie in hymnischen Funkrock-Pop-Folktronic-Gesang ein, man kann die Bezüge schwer raus hören, jedenfalls klingt es euphorisch und toll. Über ihren eigenen fett aufgetragenen Gesang rappt sie dann nochmal Zeilen wie "maybe I'm possessed, bitch".

"Fine Line" greift die eigene Geschichte auf: Zwei Mal soll sich ihr ehemaliger Produzent 'Dr. Luke' an ihr physisch vergriffen haben, außerdem jahrelang chronisch verbal. Kesha klagte lange vor der #metoo-Welle dagegen. Wenn man ihren Song so hört, hat sie sich wohl intensiv mit ganz vielen Schattierungen dieses Falls und vielen unterschiedlichen Gefühlen, Wut, Hilflosigkeit, Trauer, Verletzlichkeit, Beschmutzung, Schuldgefühlen, Rachegelüsten und einem bewussten Angriffs-Modus auseinander gesetzt, in den sie selbst geschaltet hat. Denn, und damit hat sie ganz sicher Recht: "Hey, look at all the money we made off me." - Schlusssatz dieser Electropop-R'n'B-Ballade. Das Perfide, so will sie vermitteln, ist dass ihr Kontrahent dreifach profitiert haben dürfte: durch sexuelle Erregung, Machtgelüste und monetär.

Ob folkig in "Living In My Head" zur Klampfe, ob future-soulig in "The Drama", mit Bläsern und dezentem Reggae-Beat am Ende von "Something To Believe In", ob melancholisch-artpoppig in "Happy" mit Harfen-Star Mary Lattimore - immer fällt der Sängerin was ein, was sonst auf dem Album kein zweites Mal so vertreten ist. Gewiss, nicht ihr alleine, wenn man die vielen Namen in den Credits liest. Ihre Gesangs-Spuren hat sie demnach allerdings autark produziert.

"Happy" bezirzt mit einer der schönsten Melodien dieses bisherigen Jahrzehnts. Da es auch hier ums Fragile und Kaputte geht, bricht das Lied und somit die Platte mitten in der unvollendeten Kadenz ab und cuttet ein angefangenes Amplifier-Dröhnen mitten im Vibrieren. Rick Rubin hat hier, zusammen mit einem Producer-Team für die Feinheiten der einzelnen Tracks, ernste Songs mit liebenswertem Feinschliff versehen. "Gag Order" pflegt gestalterische Gags, dabei sind die Aussagen tiefgründig. Mit einem Hang zum Existenzialismus.

Jean-Paul Sartre fände das Album wahrscheinlich super. Schon die Betitelungen sind in ihrer Abseitigkeit und Grundsätzlichkeit philosophische Story-Diamanten, "Hate Me Harder", "Eat The Acid", "Gag Order". Und 'Gag' kann im Englischen vieles heißen, auch 'Geistesblitz'. Vielleicht ist das ätherische Grundmuster der bassbefreiten Songs etwas zu 'skelettartig' und zugleich nah an unerreichbaren "Wuthering Heights". Mit Hören über mehrere Monate dürften etliche Tracks gewinnen, wenn sie einen jetzt gerade 'überrollen' oder im aufkeimenden Frühling als das vorkommen, was sie sind: Introspektive Lieder, deren Wurzeln im Stay-at-home-Rückzug der Pandemie liegen. Dennoch, eindeutig: Das Ergebnis klingt farbprächtig, voller Herzblut und entsprechend so intensiv wie Rubinrot mit dunkelblauen Momenten der Schwermut.

Trackliste

  1. 1. Something To Believe In
  2. 2. Eat The Acid
  3. 3. Living In My Head
  4. 4. Fine Line
  5. 5. Only Love Can Save Us Now
  6. 6. All I Need Is You
  7. 7. The Drama
  8. 8. Ram Dass Interlude
  9. 9. Too Far Gone
  10. 10. Peace + Quiet
  11. 11. Only Love Reprise
  12. 12. Hate Me Harder
  13. 13. Happy

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7 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Hab zu meiner eigenen Überraschung vorhin mal ins Album reingehört und werds wohl auch durchhören. Auslöser war ihr aktueller Besuch bei Zane Lowe (https://www.youtube.com/watch?v=4iz1_ps7eP…). Hatte das Video aus einem Impuls heraus angeklickt und dann durchaus fasziniert festgestellt, zu welch interessanter, vielschichtiger Person sich Kesha entwickelt hat. Auch ihre Ausstrahlung ist sehr eigen, irgendwie schwer greifbar.
    Nach den ersten Songs des Albums muss ich in jedem Falle sagen, dass mir die Experimentierfreude mit dunkleren Klängen gefällt, dass die Lieder tiefgründiger, ehrlicher und selbstbewusst abseits der Norm wandelnder sind. Da strampelt sich jemand immer weiter von der Vergangenheit frei und das sind meist die Künstlerkarrieren, die ich als besonders spannend empfinde, selbst wenn ich klassisch vielleicht eher andere Musikgenres höre. Menschlich find ich das alles sehr spannend!

  • Vor einem Jahr

    Bleibt immer die Frage, wo ehrliche, unterstützende Selbstfürsorge und grenzenlose Ichbezogenheit im Endzeitkapitalismus anfangen und aufhören. Selbstredend schwingt selbst beim ehrlichsten Songtext mit, wie er sich in der Rezeption macht, und dann wars das ganz schnell mit dsr Aufrichtigkeit. Den wenigsten kaufe ich das ab. Kesha machte es schon was länger, bevor es angesagt war. Will ihr also mal ne Chance geben.