laut.de-Kritik

Eine progressive Offenbarung mit Cello-Requiem.

Review von

"Paradigma / Broken stigma", singt Einar Solberg in "The Weight Of Disaster": eine Zeile, die "Malina" recht gut zusammenfasst. Ein Paradigmenwechsel bleibt aus, im Kern halten Leprous an ihren Trademarks fest. Gleichzeitig reformieren sie ihren Sound so weit, dass Vorwürfe, sie wickelten immer dieselbe Masche, keine Chance mehr auf Gültigkeit haben.

Wesentlich dabei ist der Einbezug von Cellist Raphael Weinroth-Browne. Die Streicher-Arrangements fügen sich so natürlich in die Kompositionen, als haben Leprous schon immer mit ihnen gearbeitet. In "Leashes" erschiene das Gitarrenriff ohne sie unvollständig, im Titelstück bilden sie einen milchigen Schleier, auf dem Einar Vocal- und Keyboard-Melodien ausbreitet.

Mit den im Vorfeld veröffentlichten Tracks erweckten Leprous den Anschein, die Indie-Route einzuschlagen und auf kurze, verhältnismäßig griffige Songs zu setzen. Das tun sie zu einem gewissen Grad tatsächlich. Bei "From The Flame" hat man etwa die zentrale Vocal-Hook nach vierzig Sekunden Spielzeit schon zweimal gehört.

"Stuck" wartet mit einem himmlischen Refrain auf, der dem Titel alle Ehre macht. Allerdings hielten Leprous bei der Single-Version des Tracks den spannendsten Teil noch zurück: eine zweieinhalbminütige Coda dominiert von – na, klar – Streichern. Was als leises Kammerspiel zwischen Synthesizer und Cello beginnt, mündet in ein fulminantes Aufbäumen. Statt oberflächlich leicht verdaulichem Radio-Edit hat man plötzlich ein vielschichtiges Epos vor sich.

Leprous gehen sogar so weit, alle anderen Instrumente zugunsten der Streicher zu verbannen. "The Last Milestone" ist nicht nur das längste, sondern auch das stärkste und mutigste Stück der Platte, ein Requiem, getragen einzig von avantgardistischen Cello-Spuren und Einars Klagegesang. Es ist anders als alles, das man von Leprous bisher kannte, und bildet trotzdem den perfekten Abschluss für "Malina".

Das liegt daran, dass die Band die Komposition nicht ohne Kontext stehen lässt. Die Streicher ziehen sich als wiederkehrendes Motiv durch das ganze Album, im Titeltrack gehen die Norweger bereits in eine "Milestone"-ähnliche Richtung, schmücken den Streicher-Teppich aber noch mit Keyboard, nervösem Schlagzeug und sporadischen Gitarreneinsätzen aus.

Im Grunde ist "The Last Milestone" vertonte Depression, was sich auch im Text niederschlägt: "A heart in dissolution / The defeat is taking form / Reaching the turning point / A desperate call." Als solche gilt auch schon der Opener "Bonneville", was den Kreis schließt. Während in "The Last Milestone" jegliche Hoffnung auf Besserung verloren ist, befindet sich das lyrische Ich in "Bonneville" noch im Zustand ständiger Unsicherheit ("Everything is vague / The awareness is fading").

Das übersetzen Leprous auf instrumentale Ebene. Äußerliche Lethargie trifft auf innere Ruhelosigkeit. Verhaltenes Synthie-Flirren, ein unermüdlicher Gitarrenloop, Einars hypnotischer Gesang, später die breite Streicher-Wand und punktuell eingesetzte Bassnoten suggerieren Stillstand, doch darunter dreht rastlos Drummer Baard Kolstad seine Runden übers Kit.

Beabsichtigt oder nicht: das Songwriting auf "Malina" weist deutliche Parallelen zu klassischer Motivtechnik auf und legt entsprechende Interpretation nahe. Es ist wohl auch kein Zufall, dass Leprous, sobald Einar "stuck on mountains" ist, instrumental zum epischen Höhenflug ansetzen ("Stuck").

Abgesehen davon ist es wie immer faszinierend, den kompositorischen Gebilden beim Wachsen zuzuhören und nach und nach die einzelnen Bestandteile zu fassen zu bekommen. Die Instrumentalspuren existieren sowohl neben- als auch miteinander. Durch polyrhythmische Tendenzen folgen Gitarre, Bass, Keyboard und Schlagzeug häufig ihren eigenen Zyklen, treiben aber doch die Mühlen eines komplexen Zahnradsystems an. Einars Gesang schwebt in diesen Momenten wie ein transzendenter Puppenspieler über allem. Dann wiederum münden solche Parts in Passagen, in denen akkurater Synchrontanz herrscht. Beide Phänomene sind in "Illuminate" zu hören.

Die Kunst, gleichzeitig rhythmisch vertrackt als auch melodieverliebt zu agieren, haben Leprous bereits auf Vorgängeralben perfektioniert. Auf "Malina" beweisen sie, dass sie (möglicherweise gemeinsam mit Tool) nach wie vor die Könige dieser Disziplin sind und ihre dadurch entstehende einzigartige Melodieführung beibehalten haben. Das kann wie in "Coma" in eruptiven Zuckungen enden, muss aber keineswegs die Abschottung vor "konventioneller" Herangehensweise bedeuten. "The Weight Of Disaster" speist sich ungeniert aus einem Alternative-Rock-Riff, "Stuck" präsentiert Akkordgeschrammel im Chorus. Das verwässert den Stil Leprous' keineswegs, sondern gestaltet ihn in erster Linie reichhaltiger.

In vielerlei Hinsicht klingt "Malina" wie die Kulmination jahrelang unausgeschöpften (und unentdeckten) Potenzials. Sowohl die mehr gen Rock denn Metal gewandte Ausrichtung als auch der großzügige Streicher-Einsatz stehen Leprous ausgesprochen gut. Die Norweger wechseln weder Atmosphäre noch Handwerkszeug, verändern aber die Oberfläche. Damit schenken sie dem Prog-Kosmos ein weiteres Meisterwerk und machen Genre-Kategorisierung obsolet.

Trackliste

  1. 1. Bonneville
  2. 2. Stuck
  3. 3. From The Flame
  4. 4. Captive
  5. 5. Illuminate
  6. 6. Leashes
  7. 7. Mirage
  8. 8. Malina
  9. 9. Coma
  10. 10. The Wight Of Disaster
  11. 11. The Last Milestone

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12 Kommentare mit 5 Antworten

  • Vor 6 Jahren

    "malina" wird vermutlich eines meiner lieblingsalben des jahres, denn diese abartige fähigkeit, während der gesamten albumlaufzeit eine permanente spannung bzw. einen permanenten emotionalen druck zu erzeugen, ohne dass es zwischen den songs und v.a. innerhalb eines songs einen wirklichen release gibt, und das trotz teils höchst melodiösen und treibenden stückwerks - die beherrscht leprous auch auf diesem album perfekt..
    auf "malina" gibt es dementsprechend nicht eine (!) musikalische explosion.. dieser emotionale druck hält einen über das ganze album hinweg unter spannung, und man empfängt jeden refrain mit doppelt- und dreifacher umarmung, trotz des höchst melodiösen gesanges. denn dieser schielt eben nicht darauf, maximal viele sing-sang-passagen zu liefern, obwohl ich es einar solberg mehr als zutraue, sondern die stimme wird als melodisches instrument eingesetzt, das kontrastiert wird mit abgehacktem riffing und verqueren rhythmuswechseln, angesichts derer die instrumentierung ein eigenleben zu haben scheint, aber das hat sie nur scheinbar, denn das geniale, ebenso dynamische wie, wenn songdienlich, maschinelle drumming hält die stimmliche und instrumentelle performance auf einer gemeinsamen grundlage.
    die erste hälfte des albums ist, während alles beschriebene albumweit gilt, auch dieses mal eingängiger als die zweite hälfte, in der leprous ihre trademarks natürlich beibehalten, allerdings songwitingtechisch komplexer vorgehen, dabei stilistisch aber kaum experimentieren - warum auch, leprous haben längst ihren eigenen stil gefunden. und statt den hörer am ende des albums sich selbst und seinen evtl. destruktiven emotionen zu überlassen, holt ihn, und das ist eine premiere für leprous, der finale song "the last milestone" endlich in einen sicheren hafen...

  • Vor 6 Jahren

    Der sehr geschätzte Rezensent Post-Rocker hat bereits so gut wie Alles auf den Punkt gebracht...ein Album welches in alle Richtungen ausbricht und unendlich viele Gefühle weckt. Ein kompkexes und spannendes Werk prall gefüllt für ausgiebige Exkursionen 5/5

  • Vor 6 Jahren

    Grazil, malmend, luftig, kompakt, einprägsam und immer wieder überraschend. SO muss Prog!